12 Dezember 2011

Essay: Jeden Tag ein neues Geheimnis.

Nun sind sie wieder hoch im Kurs. Die Jahresrückblicke auf das Jahr 2011. Was war das schon für ein Jahr: Eine logische mathematische Schlussfolgerung, behauptet Autor Tobias Lentzler.

"Evermore", Ian Hamilton Finlay.
(Foto: Tobias Lentzler, 2009)
365 Tage, 366 mit Schaltjahr, 52 Wochen und 12 Monate - das sind die Eckdaten eines Jahres. Und dieses Jahr wird von uns Menschen mit Leben befüllt. Katastrophen, Schicksale, Geburts- und Todestage. Wir geben Tagen Namen, brennen Daten in unser kollektives Gedächtnis ein, nur um uns später daran erinnern zu können. Wir erinnern uns an Zahlen, verknüpfen Bilder damit und recherchieren anhand der Daten die Ereignisse eines Tages. Wikipedia, der Brockhaus oder andere Enzyklopädien nennen uns wichtige Ereignisse, Todes- und Geburtstage - und wir erinnern diese Daten oft besser als das, was wir an jenem bestimmten Tage taten. Vielleicht halten wir uns für zu unbedeutend, als uns an einen belanglosen Tag wie jeden anderen zu erinnern. Wer allerdings einmal begonnen hat ein Tagebuch zu führen oder Notizzettel, Texte oder Kalender mit Daten zu füllen, der wird schnell merken, dass es Spaß macht sich zu erinnern. Erinnerungen geben uns Aufschluss über uns selbst, den Zustand in dem wir uns befanden oder befinden, die geistige, die persönliche Entwicklung. Jeder Tag hat sein Geheimnis, so singen es schon die Tage in Rolf Zuckowskis Musical "Der kleine Tag". Vielleicht gibt es Tage die wichtiger sind als alle anderen, vielleicht gibt es Tage die absolut belanglos sind, doch es kommt immer auf den Standpunkt des Betrachters an. Während der 12.12.1915 für mich unerreichbar und fern scheint, könnte er 2015 ekstatisch gefeiert werden. An jenem Tage wurde nämlich Ol' Blue Eyes - Mr. Frank Sinatra geboren. 2015 wäre der Tag seines einhundertsten Geburtstags. Vielleicht ist auch der heutige Tag wieder in die Geschichte eingegangen - vielleicht geschahen heute auf lange Sicht gesehen weltbewegende Dinge. Vielleicht war dieser Tag aber auch einfach nur eines - eine logische mathematische Entwicklung. Auf die 11 folgt nun einmal die 12. Und auf die 12 die 13. Nach dem 31.12. diesen Jahres wird die Jahreszahl gewechselt - die Namen der Tage und die Zahlen bleiben diesselben. Sie verändern sich nicht - es sind nur wir Menschen, die die Tage verändern, sie besonders oder unbedeutend machen.
Die Welt wird sich auch ohne uns weiterdrehen - wir sollten uns nicht zu wichtig nehmen und uns nicht zu oft an die Vergangenheit erinnern. Der Moment, die Gegenwart - das ist das, was zählt. Es geht nicht um langfristige Vorausplanungen unseres Lebens. Wenn wir einen Moment intensiv Leben, so ergibt sich daraus automatisch der nächste Moment. Weil wir zu wenig den Moment achten und zu sehr Vergangenes beschwören, grenzen wir unsere Zukunft aus. Langfristig planen heißt nicht die Zukunft zu machen, sondern der Moment zu sein.

21 November 2011

"Ich will Dich." - Eine Kurzbetrachtung eines sehr persönlichen Films über Hilde Domin.

Hilde Domin begann erst mit 42 Jahren zu schreiben und wurde zu einer der größten Lyrikerinnen der Moderne. Der Film "Ich will Dich" von Anna Ditges begleitet die Dichterin in ihren letzten zwei Lebensjahren.

Im Februar des Jahres 2006 stirbt die große Lyrikerin Hilde Domin im Alter von 96 Jahren. Sie hat uns nicht nur viele Gedichte und Prosa-Texte mit wunderbaren Botschaften hinterlassen, sondern auch einen Dokumentarfilm, der im Jahr 2007 ins Fernsehen und in die Kinos kam. Anna Ditges, Cutterin, Regisseurin und Kamerafrau hat Hilde Domin zwischen 2005 und 2006 immer wieder über lange Wochenenden besucht und ihre Lebensweisheiten festgehalten. Mit einer unglaublichen Ruhe, wunderbarer Zurückhaltung und viel Liebe entsteht ein tiefergreifendes Portrait von Hilde Domin. So nah ist ihr Anna Ditges, dass die große Dame manchmal verlangt, dass die Kamera ausgeschaltet wird. Bewegende Momente. In den Kritiken des Films wird Ditges hochgelobt. Die FAZ, viele weitere Tageszeitungen und ein großer Regisseur und Redakteur wie Horst Königsstein zeigen sich von der Zärtlichkeit dieses Portraits beeindruckt. Das mag daran liegen, dass man diesen Film nicht bloß als Portrait begreift. "Ich will Dich" ist eine persönliche Annäherung an den Menschen Hilde Palm (geborene Löwenstein), deren Künstlername Domin eine Anspielung an die Domenikanische Republik ist, in der Hilde Domins Mann, Erwin Palm, und sie zwölf Jahre lang lebten. Der Tod von Hilde Domins Mutter führte dazu, dass die Dame mit über 40 Jahren begann zu dichten. Sie hatte eine eigene Tätigkeit gefunden,  so wie ihre Mutter es sich immer gewünscht hatte. -
"Ich will Dich" ist ein bewegender Film, der den Tod von Hilde Domin nicht ans Ende stelllt. Die Liebe lebt weiter in uns, so Anna Ditges später. Selten habe ich einen bewegenderen Film gesehen.

31 Oktober 2011

Die drei Fragezeichen: Zwei-Drittel Gold.

Mehr als 10 Millionen verkaufte Tonträger, eine immer weiterwachsende Fangemeinde und drei gerührte und glückliche Sprecher kommen an diesem Abend zusammen - die drei Fragezeichen stellen im "Edelfettwerk" in Hamburg-Eidelstedt die 150.Folge "Geisterbucht"vor und werden dabei mehrfach angenehm überrascht.

Seit 1979 sind die drei Detektive Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews nur unwesentlich gealtert und auch ihre Sprecher Oliver Rohrbeck, Jens Wawrczeck und Andreas Fröhlich erscheinen fidel und voller Tatendrang. Gestern fand die "Record-Release-Party" unter der Organisation des Hörspiellabels LauscherLounge zur 150.Folge der drei Fragezeichen "Geisterbucht" statt. Zu diesem festlichen Anlass waren 500 treue Fans, viele altbekannte Sprecher aus den EUROPA-Studios, unter anderem Andreas von der Meden und Heikedine Körting, die Ehefrau des Mitbegründers von Europa, Andreas E. Beurmann, gekommen.

Heikedine Körting sitzt seit der ersten Folge der drei Detektive hinter dem Mischpult und verleiht ihnen den charakteristischen Sound und eine besondere Qualität, die die Hörspielserie so berühmt und beliebt machte. Doch nicht nur im Edelfettwerk in Hamburg-Eidelstedt, nein, weltweit war die Veröffentlichungsparty von "Geisterbucht" verfolgbar. Über einen Livestream im Internet, der erstmalig bei einer Record-Release-Party eingesetzt wurde, sahen 15.000 Menschen zu! Dieses schier unfassbare Zahl ist ein Indiz für die Beliebtheit der drei Fragezeichen. Oliver Rohrbeck, Jens Wawrczeck und Andreas Fröhlich sowie all ihre Mitstreiter zeigten sich von diesem Fan-Echo gerührt und begeistert. Immer wieder betonten die drei, dass sie gerne weiter die drei Fragezeichen sprechen würden und gespannt auf neue Folgen seien. Die unter Fans oft gestellte Frage, ob die drei denn auch Freunde seien, beantwortete Andreas Fröhlich mit unüberhörbarer Ironie mit "Nein, natürlich nicht!". Das Publikum im Edelfettwerk war bunt gemischt. Über eine Reihe von in blau-rot-weiß (jede Farbe für ein Fragezeichen) gewandete Fans bis hin zu fein in Anzug und Kleid gekleidete Gäste, war alles vertreten. Jeder genoss den Abend mit seinen Hörspielhelden. Fans der ersten Stunde mischten sich mit Jugendlichen, die heute ebenso Fans der drei Detektive sind.

Ein perfekter Abend um in seine Jugend einzutauchen, an alte Folgen zu denken und mit Spannung die neue Folge (VÖ: 11.11.2011) zu erwarten! -
Zu guter Letzt wurden sogar die drei Sprecher noch überrascht. 100 Folgen der 149 bisher veröffentlichten Folgen erhielten Goldstatus! - Zwei Drittel aller Folgen also sind nun vergoldet. - Wenn das nicht ein Grund mehr zum Feiern ist!




06 Oktober 2011

"Alles viel, alles laut." - Henriette Kaiser im Interview.

Die Planung für ein Interview mit Henriette Kaiser, Autorin und Filmemacherin und nebenbei auch Tochter des Musikkritikers Joachim Kaiser, läuft seit Mai 2011. Wir telefonieren, planen ein Gespräch im Juni oder Juli - schlussendlich legen wir uns auf einen Termin im August fest. Das Interview soll in Berlin stattfinden. Doch auch daraus wird nichts, zu viel läuft gerade "drunter und drüber" in Henriette Kaisers Leben. Im September beschließen wir, das Interview per E-Mail zu führen. Nun ist es fertig - oft lohnt es sich um ein Gespräch zu kämpfen!




Tobias Lentzler:  
Liebe Frau Kaiser, Ihr Vater ist so etwas wie die „graue Eminenz“ der SZ. Inwieweit fühlt Sie sich von ihm in den Schatten gedrängt?

Henriette Kaiser:  
Na, das geht ja gleich in medias res. Ein verdammt komplexes Thema. Gut, weil Sie es sind: Zuerst musste ich mein eigenes Vater-Verhältnis klären, um mich aus vermeintlichen oder echten Schatten zu befreien. So einen Klärungsakt mit den eigenen Wurzeln muss meines Erachtens aber jeder Mensch in irgendeiner  Form für sich machen. Wahrscheinlich muss man mit einem Vater, der auch öffentlich eine Rolle spielt so eine Klärung gründlicher betreiben, als mit einem rein privaten Vater. Das weiß ich aber nicht. Ich kenne nichts anderes. Ich weiß nur, dass ich neben den internen Mechanismen zwischen meinem Vater und mir auch die Mechanismen durchforsten musste, die durch die Umgebung stattfinden. Die Rolle der Umgebung spielt bei diesen Schatten nämlich eine große Rolle. Wenn sie auf mich trifft, hat sie indirekt die Möglichkeit, an meinen Vater zu gelangen. Und darum geht es ihr oft. Ich bin oft nur  ein Mittler des Verhältnisses der Umgebung zu meinem Vater. Über das Treffen mit mir kann sich ihr Verhältnis zu meinem Vater spiegeln, von was auch immer dieses Verhältnis geprägt ist, von Interesse, Hass, Neid, Wut, Liebe, Bewunderung etc. Und noch verwirrender: Oft verbirgt sich hinter diesem Verhältnis ein komplexer Spiegel zu ihrem eigenen Vater-Verhältnis. Das alles prallt dann irgendwie auf mich und wirft seine Schatten. Es hat lang gedauert, bis ich begriffen habe: all die Reaktionen, die verletzenden, die schmeichelnden, die positiven, die negativen haben so gut wie nie etwas mit mir selber zu tun. Als ich das durchschaut habe, haben sich die Schatten weitestgehend verzogen. Im beruflichen Gefilde dauerte das länger als im Privaten, wo ich seit eh und je das Glück hatte, immer ganz großartige Freunde zu haben, denen mein Vater natürlich nicht egal - aber was mich angeht – doch sehr egal war.

Tobias Lentzler: 
Wie haben Sie Ihre Kindheit in Erinnerung? Gab es ein Schlüsselerlebnis für Ihre spätere Berufswahl?


Henriette Kaiser: 
Bei uns ging es immer recht emotional zu. Im Guten wie im schlechten. Unendlich viele Gespräche, viele Streitereien, viel Lachen. Alles viel, alles laut. Alles über den Kopf und trotzdem emotional. Viel Intellekt. Viel Ironie. Und unendlich viel Musik und Literatur. Und Theater und Film. Und Kunst. Asterix, Dostojewski, Patty Smith, Goya, Polke, Franz Schubert, "Vier Fäuste für ein Halleluja", Woody Allen, Fellini und Bunuel. Alles wild durcheinander, alles verbindend, alles bereichernd. Letztlich landet man da automatisch bei Film, weil es die komplexeste Erzähl- und Kunstform ist. Schon als 15-Jährige wusste ich, dass ich Filmregisseurin werden wollte.

Tobias Lentzler: 
Sie haben 3 Ausbildungen gemacht – warum?

Henriette Kaiser: 
Da ich schon immer den ganzen Tag herumgesungen habe, kam irgendwann einmal von meiner Mutter der Vorschlag, ob ich nicht Lust auf eine Gesangsausbildung hätte.  Mit 17, also noch vor dem Abitur, habe ich damit begonnen. Ein bisschen Talent hatte schon, aber immer deutlicher zeigte sich, dass ich nicht der Typ bin, der sich auf eine Bühne stellen muss, um andere Menschen mit seinem Singen glücklich zu machen, sondern eher der Typ bin, der sich gerne überlegt, was auf der Bühne stattfinden soll. Außerdem tauchte plötzlich auch das Problem mit meinem Namen als Kritikertochter auf. Für eine Laufbahn als Opernsängerin hätte ich ein Pseudonym annehmen müssen, hieß es von mehreren Branchenkundigen Leuten. Da hat sich aber alles in mir gesperrt.  Und dann half eine chronische Kehlkopfentzündung die Entscheidung zu fällen: ich durfte für ein halbes Jahr nicht mehr singen, ich zog nach Berlin, studierte diverse Geisteswissenschaften und stob an so vielen Opernbühnen wie möglich als Hospitantin und Assistentin herum. Über diese vielen Bühnenarbeiten spürte ich, dass meine Art zu erzählen und zu inszenieren eher in das Medium Film passen würde als auf die Bühne. Also begann ich bei Filmprojekten in allen möglichen Funktionen zu jobben. Mit Ende 20 bewarb ich mich dann auf der Filmhochschule und hatte das Glück, dass ich aufgenommen wurde. Bei meinem ersten Film, den ich selber schrieb, inszenierte und schnitt spürte ich: ja, das ist es. Alles, was ich je gelernt habe, alle meine Interessen kommen hier zusammen. Film und Musik liegen übrigens sehr nahe zusammen. Auch beim Geschichten erzählen geht es um Rhythmus, um das Atmen. Und eine Bühnenarbeit würde ich heue auch glatt machen.Da wird auch geatmet.

Tobias Lentzler: 
Auf Ihrer Website ist anhand vieler verworfener oder in die Schublade gelegter Projekte abzulesen, dass die Filmbranche heute ein sehr schwieriges Geschäft zu sein scheint. Was macht die Branche Ihrer Meinung nach so schwierig?

Henriette Kaiser: 
Das ist ebenfalls irre komplex verwoben. Grob gesagt: Die Filmbranche war schon immer schwierig und nichts für allzu empfindliche Gemüter. Einfach weil Film schon immer unendlich teuer war. Aber in den 90er Jahren haben sich Fernsehen und Kino immer mehr in eine Richtung Industrie entwickelt, wo erzählerische oder künstlerische Kriterien immer weniger zählten und marktwirtschaftliche Kriterien immer wichtiger wurden. Da haben meine Geschichten zwischen den Genres oft nicht ins System gepasst. Um einige der Geschichten, die nicht gemacht wurden, tut es mir leid. Andere haben sich schmerzfrei in Luft aufgelöst und wiederum andere haben sich als Zwischenstufen für andere Projekte herausgestellt.

Tobias Lentzler: 
Warum haben Sie das Filmen trotz vieler „Rückschläge“, also Verwerfungen oder verlorener Finanzierungen/ Förderungen nicht aufgegeben?

Henriette Kaiser: 
Es macht mir Spaß, Geschichten zu erzählen. Mir macht das Ausdenken und Schreiben Spaß und die Synergie, die sich mit anderen kreativen Menschen ergibt, wenn man dreht. Es macht glücklich, wenn man merkt, dass man die Menschen erreicht, mit dem, was man macht. Wenn das Kinopublikum an den Stellen lacht oder weint, wo man es sich erhofft hat, dann ist das einfach toll. Und noch toller ist es vielleicht, wenn man spürt, dass man Menschen manchmal vielleicht sogar helfen kann. Bei einem Projekt hatte ich das Glück, diese Erfahrung zu machen. Bei dem Buch "Schlussakkord", in dem es um das Sterben meiner Freundin ging und meinen sehr hilflosen Versuch, sie zu begleiten und zu stützen. Und aus all diesen Gründen möchte ich weitermachen.

Tobias Lentzler: 
Bücherschreiben tun Sie auch – was sind Ihre nächsten Projekte?

Henriette Kaiser: 
Seit Jahren schwebt mir ein Buch-Film-Projekt vor Augen, das mit Reisen zu tun hat. Mit filmischen Reisen,  mit echten Reisen. Ich habe aber nie genau gewusst, wie ich es angehen soll. Und nun habe ich den Ansatz gefunden. Ich mache eine lange Argentinien-Reise, und die wird der Aufhänger für die anderen Reisen, die ich erzählen möchte. Als Buch und auch als Film. Ich freue mich schon sehr. Ich mache übrigens beim Geschichten-Erzählen keine Unterscheidung in Film oder Buch. Beides ist für mich gleichwertig. Beides ist auch sehr ähnlich - abgesehen von den Faktoren einsames Rumarbeiten, Teamgedanken, Kostenpunkte und Abhängigkeiten.  Bei den Kosten und Abhängigkeiten ist das Schreiben natürlich im Vorteil. Aber der Teamgedanke und die Teamsynergie beim Drehen: das ist phänomenal. Mit einem Wort: der Wechsel von beiden Tätigkeiten scheint mir ideal zu sein.

Tobias Lentzler: 
Woher nehmen Sie ihre Inspiration für neue Filmstoffe oder Bücher?

Henriette Kaiser: 
Inspiration kann alles sein. Aber ich wähle und suche nicht die Stoffe, sondern die Stoffe wählen oder suchen mich. Meist, wenn ich in Bewegung bin. Beim gehen, beim reisen.

Tobias Lentzler: 
Was hat Sie in letzter Zeit bereichert?

Henriette Kaiser: 
Meine selber angepflanzten Tomaten, mein Salat. Meisen, die in ein Meisenhäuschen eingezogen sind, das ihnen ein Freund in meinem Garten gebaut hat, tolle Landschaften, die Möglichkeit, ganz nah vor alten Meisterwerken der Malerei zu stehen und ihnen in die Seele schauen zu können. Und gerade in letzter Zeit, wo sehr viele Umbrüche und unangenehme Dinge passiert sind, die großartige Unterstützung von echten Freunden.

Tobias Lentzler: 
Welches Projekt wollen Sie demnächst umsetzen?

Henriette Kaiser: 
Das Argentinien-Abenteuer. Und Hunde-Interviews, die ich dort führen werde. Todernst gemeint natürlich.

Tobias Lentzler: 
Welches Projekt ist Ihnen eine Herzensangelegenheit bzw. ein Stoff, der Ihnen am Herzen liegt?

Henriette Kaiser: 
Wofür ich immer noch nicht die richtige Form gefunden habe, ist mein Herzensprojekt über Mütter. Da geht es natürlich um alle Menschen, um das Leben an sich. Und dummerweise auch um Religion und Glaube. Dummerweise sage ich, weil dadurch der Stoff nicht eben vereinfach wird. Aber ich bin guter Dinge. Ich finde schon noch den Weg, dieses kleine "Epos" unterhaltsam, spannend und leicht zu erzählen. Über welche Umwege auch immer. Was mir dazu gerade einfällt: erzählen bedeutet auch, Dinge für sich begreifbar zu machen. Auch wenn das dann vielleicht andere Dinge sind, als die, die der Leser, Zuschauer, Betrachter für sich herausliest. Oder wenn man auch als Macher sich darüber nicht im Klaren ist, um was es eigentlich hinter der Geschichte geht. Schon doll, was da alles passiert.

Tobias Lentzler: Als 
Freiberuflerin kommen Sie sicherlich viel herum bzw. haben nicht immer einen festen Arbeitsplatz, oder? Wo sammeln Sie sich?

Henriette Kaiser: 
Ich komme nicht so viel herum, wie ich es gerne täte. Es gibt nun einmal Verpflichtungen und das Rumkommen kostet ja auch. Leider habe ich es bisher verpasst, einen zahlenden Auftragsgeber zu finden. Was das sammeln angeht, da bin ich aber zum Glück örtlich ungebunden. Ich sammle mich beim Yoga machen, beim Gehen und Wandern, bei guten Gesprächen, beim Lesen, beim Beobachten von Tieren und Genießen von schönen Landschaften in nah und fern.



Tobias Lentzler: 
Was geschieht bei Ihnen mit „verworfenen“ Drehbüchern oder Ideen?



Henriette Kaiser: 
Sie schlummern. Dann wachen sie manchmal auf, melden sich in neuer Form. Sie veralten. Oder sie werden plötzlich wieder topaktuell.

Tobias Lentzler: 
Ist Ihr Vater ein Vorbild für Sie? Wenn ja – warum? Wenn nein – was müssen Vorbilder leisten?

Henriette Kaiser: 
Es gibt in der Tat etwas, worin mein Vater für mich ein Ansporn war. Das ist der Versuch, komplizierte Dinge und Zusammenhänge nicht kompliziert zu präsentieren, sondern möglichst einfach. Ihm ist es mit all seinen Vorträgen und Aufsätzen wirklich immer ein Bedürfnis gewesen, dass man versteht, um was es geht und sich die Sinnlichkeit vermittelt. Ich versuche auch, komplizierte Themen möglichst lebensnah, also auch mit Humor und möglichst einfach zu erzählen, ohne den ernsten Inhalt zu denunzieren oder lächerlich zu machen. Dafür habe ich aber natürlich auch noch andere Vorbilder, z.B. Fellini und da besonders sein Film Amarcord. Ich wusste immer, wenn ich es schaffe, so einen großen Inhalt mit soviel Humor und Poesie zu erzählen, dann kann ich mich glücklich schätzen.

Tobias Lentzler: 
Wie beurteilen Sie den Stand der Hochkultur heute für die Ihr Vater immer so vehement eintritt? Was macht Sie Ihrer Meinung nach bedeutsam?

Henriette Kaiser: 
Oh weh. Letztlich gibt es für mich keinen Unterschied zwischen Hochkultur und "Nieder-Kultur". Für mich kann alle Kultur spannend, gut gemacht oder eben fad und schlecht gemacht sein.
Aber natürlich gibt es Kultur, die mehr wirkt, die länger Bestand hat, eindringlicher und auch anspruchsvoller ist, als eine andere. Aber es gibt - finde ich - keine kristallklaren Definitionen dafür, was Hoch oder Nicht-Hochkultur voneinander trennt. Vielleicht der Anspruch. Ein Anspruch, den vielleicht auch schon der Schaffende hatte, ein Anspruch aber auch für den Rezipienten, der die Kunst wichtig nehmen und dafür auch einen kleinen Einsatz aufbringen möchte: Zeit, Konzentration, Interesse, Leidenschaft. Das System, immer nur von irgendwelchen Events mitgerissen und überwältigt zu werden, das haut nicht hin. Letztlich ist Hochkultur vielleicht die Kunst, wo man sich auch mal wieder auf etwas konzentrieren und einlassen möchte, um Erfahrungen zumachen, die sich im Alltag nicht jeden Moment ergeben. Um wichtige Essenzen zu erleben. So gesehen wird sie zur Zeit vielleicht sogar noch wichtiger, als zu Zeiten, wo es nicht ganz so viel nur um Kommerz, um Verkäuflichkeit, um Ablenkung und  Werbung ging. Aber das ist jetzt alles ziemlich aus dem Bauch. Darüber könnte man stundenlang reden und schreiben. 

Tobias Lentzler: 
Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?

Henriette Kaiser: 
Für eine Geigenkarriere ist es zu spät. Auch der Zug als Hochleistungssportlerin oder vielfache Mutter ist abgefahren. Ich hoffe nur, dass ich in fünf Jahren einigermaßen gesund und in mir ruhend bin und mich auf neue Abenteuer einlassen kann und an schönen Projekten arbeite, mit netten Menschen zusammen lebe und etwas Geld verdiene.

Tobias Lentzler: 
Planen Sie Ihr Leben minuziös oder leben Sie mehr in den Tag?

Henriette Kaiser: 
Ich mache gerne Pläne, dann weiß ich: so wird es auf keinen Fall laufen. Pläne sind dazu da, um verworfen zu werden. Aber nur in den Tag hineinleben, das ist mein Ding auch nicht. Dazu bin ich viel zu aktiv. Ich habe einen ganz guten Modus gefunden, beides zu verbinden. Ich werde immer besser darin, einen Rahmen zu haben und die unvorhersehbaren Momente zuzulassen und zu feiern.  Als Freiberufler, der nie einen sicheren Rahmen hat, macht man sich kaputt, wenn man das nicht lernt. 

Tobias Lentzler: Liebe Frau Kaiser, vielen Dank für dieses Gespräch.

23 August 2011

Der Feingeist des deutschen Humors. – Ein Nachruf auf Loriot.

 Vicco von Bülow, einem jeden Deutschen bekannt als Loriot, starb am 23.August 2011 in seinem Haus am Ammersee. Sein Tod erschütterte nicht nur die deutsche Medienlandschaft, sondern auch den deutschen Humor. Autor Tobias Lentzler mit einem persönlichen Nachruf.

"Zur Komik gehört eine gewisse Fallhöhe. Wenn jemand eine Sache ernst anlegt und sie misslingt, dann entsteht Komik." Diese weisen Worte sprach Vicco von Bülow - jedem unter dem Namen Loriot bekannt - in einem Interview mit Günter Kaindlstorfer im November 2003. Mit diesem Satz hat er aufs Präziseste sein Verständnis von Humor zusammengefasst - diese Aussage schwingt in beinahe all seinen Sketchen und seinen beiden Kinofilmen "Ödipussi" (1988) und "Pappa ante Portas" (1991) mit. Szenen des Alltags werden bei Loriot mit solcher Ernsthaftigkeit durchgespielt, dass wir uns in jeder Szene ein stückweit wiedererkennen. Er nimmt deutsche Tugenden, eine gewisse Spießigkeit sowie einfache Annährungsversuche eines Mannes an eine Frau unter die Lupe und entdeckt, wie humorvoll und gar urkomisch das Leben sein kann.

Loriot, also Vicco von Bülow wurde am 12.November 1923 in Brandenburg an der Havel geboren und wuchs mit seinem jüngeren Bruder bei seiner Großmutter in Berlin auf. Mit 10 Jahren kamen die Beiden jedoch wieder zu ihrem Vater, dem Polizeimajor Johann-Albrecht von Bülow und zogen im Jahre 1938 nach Stuttgart. In Stuttgart besuchte Vicco von Bülow ein humanistisches Gymnasium, das er 1941 mit einem Notabitur verließ. In seiner Stuttgarter Zeit sammelte von Bülow erste Erfahrungen im Opern- und Schauspielbetrieb als Statist. Einer Familientradition folgend begann er eine Offiziersausbildung und wurde nach einem Einsatz an der Ostfront mit dem Eisernen Kreuz zweiter sowie erster Klasse ausgezeichnet.
Nach dem Krieg legte von Bülow sein Abitur ab und studierte auf Anraten seines Vaters zwischen 1947-49 Malerei und Grafik in Hamburg. In dieser Zeit entstanden die später charakteristischen Knollennasenmännchen. Ab 1950 arbeitete von Bülow als Grafiker für den Stern und das Hamburger Magazin Die Straße.
Interesse an der Veröffentlichung von von Bülows Zeichungen bestand nicht - erst 1954 veröffentlichte der Schweizer Diogenes-Verlag den Cartoon-Band Auf den Hund gekommen.
Die erste Zeichnung mit dem Namen Loriot entstand in der Zeit des Kunststudiums in Hamburg. Eine Zeichung aus dem Jahre 1949, die Loriot in Möpse und Menschen - eine Art Biographie als "etwas abseits meiner ernsten künstlerischen Ziele" bezeichnete, betitelte er erstmalig mit Loriot. Die Zeichung zeigt einen Mann, der auf einem Lehnstuhl sitzt und an die Decke blickt. An ihr hängen vier Seilwinden, die jeweils einen Gegenstand unter der Decke halten. Von links nach rechts sind die Gegenstände als Hut, Mantel, Mehl und Gäste bezeichnet.
Loriots Cartoons wurden von der Leserschaft vieler renommierter Magazine und Blätter kritisiert. Die "Knollnasen" waren ein besonderes Ärgernis in den Augen vieler. - Ich bin sicher, dass viele der damaligen Leser - sofern sie heute noch leben - ihre Meinung über Loriot änderten als er ab 1967 in der ARD mit Cartoon auftrat. In der Sendung, die bis 1972 unregelmäßig ausgestrahlt wurde, empfing Loriot Karikaturisten und andere Gäste. Vermehrt wurden auch Sketche in der Sendung gezeigt. Einem breiten Fernsehpublikum wurde Loriot spätestens ab 1976 bekannt, denn in diesem Jahr begann mit Loriots sauberer Bildschirm die sechsteilige Fernsehsendung Loriot, die selbstgeschriebene sowie selbstgespielte Sketche von Loriot zeigten. Evelyn Hamann und Loriot spielten in dieser Zeit oft gemeinsam.

Als ich acht Jahre alt wurde, da schenkte man mir einen Schuber mit DVDs. Darauf stand "Loriot". Ich wusste zu dieser Zeit nicht, wer das war, doch als ich mir die kleinen Sketche anschaute, musste ich unweigerlich lachen. Auch wenn ich Loriots wörtlichen Humor noch nicht genau verstand - bis heute entdecke ich jedes Mal aufs Neue wunderbarste Anspielungen - musste ich über Loriot als "komische Figur" lachen. Obwohl ich erst 1993 geboren wurde und die Sendung Loriot weit vor meiner Zeit ausgestrahlt und eingestellt wurde, empfinde ich bis heute eine tiefe Sympathie für seine Sketche, seinen Humor und Loriot an sich. Ich habe den Menschen Vicco von Bülow nicht gekannt. Ich habe bloß ein paar Interviews mit ihm geschaut - unter anderem das zum Tode von Evelyn Hamann. Aber ich kann sagen, dass ich Loriot bewundert habe, ihn immer großartig fand. Deutschland hat heute seinen wichtigsten Humoristen verloren. Er wird der deutschen Fernsehlandschaft erhalten bleiben, seine Sendungen werden wiederholt werden - da bin ich ganz sicher!
Und auch sein Humor wird uns überdauern. Mooooment!

09 Juli 2011

"Couldn't care less!" – Roger Willemsen im Interview.

Roger Willemsen ist einer der bekanntesten Intellektuellen Deutschlands. Er schreibt Bücher und wendet sich immer mehr den Bühnen Deutschlands zu. Das hier vorliegende Interview ist stark gekürzt und beläuft sich auf ein ausführliches Gespräch, welches ich am 13.11.2009 im „Magazin“- Filkunsttheater, kurz vor der Premiere von   "Bangkok Noir  " (Text: Roger Willemsen/ Fotos: Ralf Tooten), führte. Ursprünglich war dieses Interview im Rahmen von "Schüler machen Zeitung " für das Hamburger Abendblatt gedacht – dort ist es jedoch nie erschienen.


Tobias Lentzler: Herr Willemsen, wie kamen Sie dazu Kulturschaffender zu werden?

Willemsen: Zunächst mal hat mich Kultur in einem etwas übergeordneten Sinn interessiert. - Nicht nur als die Kultur als Versammlung von Werken, sondern als etwas, dass zwischen Menschen hin und hergeht. Alles was Einsamkeit überbrückt und letztlich Teil der Kommunikation ist, würde ich der Kultur zuschlagen.

Tobias Lentzler: Ist Menschen die Kultur angeboren oder muss man dort manchmal noch etwas nachhelfen?

Willemsen: Berechtigte Frage! - Man kann ja nicht voraussetzen, dass jeder Mensch in eine Umgebung
hineingeboren wird, in der er versteht, was das besondere an einer Mozart Symphonie ist. - Es gibt aber auch so etwas wie ursprüngliche kulturelle Bedürfnisse.
Hätte ich das Gefühlsleben von Britney Spears, dann würde ich wahrscheinlich zwischen C-Dur-Dreiklängen leben und so wären drei Viertel meines Tages nicht mehr darstellbar. Während ich, wenn ich erkenne, dass alle Gefühle, gemischte Gefühle sind, Dissonanzen und den Übergang von Dur zu Moll brauche. Dort ist jeder Mensch eigentlich grundsätzlich zu Hause - Man müsste ihm nur manchmal sagen: Sieh mal, du bist kunstfähig; du bist geistfähig!

Tobias Lentzler: Sie waren ja immer schon im Fernsehen zu sehen. Was bedeutet das Fernsehen für Sie?

Willemsen: Erstmal ist das Fernsehen wie ein totes Objektiv. Ich agiere nicht zum Saal selbst, sondern zur Kamera. Der Saal hat aber eine eigene Wallung. Zudem ist das Fernsehen für mich permanent mit der Anstrengung verbunden, Minderheiteninteressen - nämlich meine - auf Mehrheiten zu übertragen. Die sitzt unter Umständen mit vor der Brust verschränkten Armen da und sagt: Couldn’t care less!
Daran darf man sich nicht ewig abarbeiten, sonst wird man nie erwachsen.
 
Tobias Lentzler: Ihre Beobachtungen In „Deutschlandreise“ zeugen von geplanter Eintönigkeit, überschnellem Wandel. Wandelt die Kultur auf denselben Pfaden?

Willemsen: Die Kultur tut es, wo sie sich dem kommerziellen Profit mehr und mehr öffnet. Der Halbausverkauf der Masseninteressen - die Massenkultur. Ich würde mir eine morphologischeVielfalt wünschen. - Ein Beispiel: Ich mag die Kleider von Wigald Boning, auch wenn ich sie nie anziehen würde! Es ist mir aber lieber, wenn jemand so aussieht und nicht wie ich. Nämlich förmlich. (lacht)

Tobias Lentzler: Suchen Sie auch in anderen Kulturen auf Ihren Reisen nach den Bruchstücken, die das Ganze, die Kultur wieder zusammenfügen?

Willemsen: Aber ja! In anderen Kulturen gibt es, egal wie groß ihr Leid auch sei, immerhin eine Kultur des Erzählens, welche zur Bildung, und dem Trost, den diese Länder dringen brauchen, beiträgt. Ich sehe den horror vacui eines deutschen Beamten, der seiner Frau jeden Abend eine Geschichte erzählen soll. - Am zweiten Tag hat der keine mehr!

Tobias Lentzler: Kommen wir zur letzten Frage. Was wünschen Sie sich für die Kultur im Allgemeinen?
 
Willemsen: Ich wünsche mir eine Art Solidargemeinschaft derer, die ihr Innenleben ein bisschen komplizierter finden, als es das Massen-Ich des Fernsehens für gemeinhin tut!

















08 Juni 2011

„Wo bleibt die Welthaltigkeit?“ – Burghart Klaußner im Interview.

Nach einem ersten Versuch eines Interviews im Oktober, das aus Termingründen nicht zustande kam, traf ich Burghart Klaußner am 24.11.2010 im Café Knips in Hamburg- Othmarschen. Mit großer Gelassenheit, viel Zeit und Fantasie entwickelte sich ein spannendes Gespräch über die Aufgaben von Kunst und Kultur, künstlerische Freiheiten und die eigene Vita des Schauspielers.


Tobias Lentzler: Sie sind Schauspieler, Theaterautor und Hörbuchsprecher. Was sehen Sie als Beruf und was als Berufung?

Burghart Klaußner: Alles was ich mache ist Beruf und Berufung zugleich. Aber Berufung ist ein hochtrabendes Wort, fast religiös. Vielleicht sollte man lieber von Lust und Laune sprechen. Schauspielerei ist eben ein großes Berufsbild. Glücklicherweise habe ich ja einen Beruf, der mir auch Spaß macht. Das kann man den meisten Menschen nur wünschen.

Tobias Lentzler: Wann wussten Sie, dass Sie Schauspieler werden wollen?

Burghart Klaußner: Schon sehr früh. Mit etwa 8 oder 9 Jahren. Es geht ja vielen so, dass sie in diesem Alter das Ziel haben Schauspieler zu werden oder glauben es sei das Richtige für sie. Da gibt es aber schlussendlich eine sehr harte Auslese. Wenn man keinen Durchhaltewillen und eine gehörige Portion Selbstüberschätzung hat, ist der Beruf nichts für Einen.

Tobias Lentzler: Und Sie überschätzen sich selbst?

Burghart Klaußner: Nein- das sollte ironisch sein. Aber wie gesagt- Durchhaltevermögen ist wichtig.

Tobias Lentzler: Haben Sie nie an der Schauspielerei gezweifelt?

Burghart Klaußner: Nein- überhaupt nicht. Das kenne ich nicht. Das heißt nicht, dass die Arbeit immer leicht ist oder von selbst funktioniert, denn Zweifel an sich selbst muss man haben, sonst kann man sich nicht entwickeln- aber den Beruf habe ich nie angezweifelt.

Tobias Lentzler: Sie hatten scheinbar immer genug Motivationsfläche um Schauspielerei zu betreiben. Was fasziniert Sie denn daran?

Burghart Klaußner: Das Faszinierende ist, dass man sich dem Menschenbild widmen kann. Man schaut sich die Leute auf der Straße an und fragt sich was das für merkwürdige Gestalten sind. Von den Eltern, über Lehrer bis hin zu Freunden- über Jeden macht man sich ständig ein Bild und bildet ohne Ende Vorurteile. Die Frage ist dabei oft, wie finde ich meinen Weg unter all den Menschen. Sein Gegenüber richtig einzuschätzen ist harte Arbeit. Das spielt in der Schauspielerei eine wichtige Rolle. Es ist ein großes Vergnügen und manchmal sogar eine Notwendigkeit sich in Personen hineinzuversetzen, sie nachzumachen, sie nachzuspielen. Das scheint eine Art Urinstinkt zu sein um hinter bestimmte Wesenszüge des Menschen zu kommen. Das dient nicht nur der Terrainverteidigung sondern auch der Befriedigung unserer eigenen Neugier.
Das Wunderbare an der Schauspielerei ist, dass es mit über sechs Milliarden Menschen auf der Welt ein unglaubliches Potenzial für Geschichten und Interpretationen gibt. Kein Mensch ist wie der Andere. Das ist schier unglaublich. Das ist ein künstlerisches Grundpotenzial. Der Schauspieler sieht den Menschen und ist fasziniert von seiner Eigenart.
Über die Schauspielerei ist es möglich sich die Welt anzuverwandeln.

Tobias Lentzler: Sie sprachen von der Unterschiedlichkeit der Menschen. Das suggeriert ja, dass es im Grunde genommen immer genug Stoff für Film und Theater gibt. Was ist denn ein Filmstoff, der Ihnen besonders am Herzen liegt?

Burghart Klaußner: Ich bin immer sehr an historischen Stoffen interessiere, da ich mich sehr dafür interessiere, wo wir herkommen. Das ist interessanter als „Wo gehen wir hin?“ – irgendwann juckt mich das sowieso nicht mehr.
Vor allem stehen aber Stoffe im Zentrum, die zwischenmenschliche Probleme behandeln.

Tobias Lentzler: Sie sind zurzeit (Stand: November 2010) als Lottes Vater in „Goethe!“ zu sehen, letztes Jahr waren Sie der Pfarrer in „Das weiße Band“. Das zeigt ihre Affinität zu geschichtlichen Stoffen. Aber finden Sie nicht, dass in den letzten Jahren fast zu viele historische Stoffe auf die Leinwand gebracht werden? Ist das eine gute oder natürliche Entwicklung? Oder ist sie folgerichtig, weil wir selber keine Filmstoffe mehr haben?

Burghart Klaußner: Ich finde es interessant, dass Sie das so beobachten. Ich müsste darüber nachdenken, ob ich diese Entscheidung teilen kann. Bis zu einem gewissen Grade stimmt das schon, aber auf der anderen Seite gehen uns die Stoffe absolut nicht aus. In Film, Theater und Literatur sind zurzeit „Beziehungskisten“ ganz oben auf der Skala- das ist nichts Historisches.
Geschichtliche Stoffe sind so populär, da die deutsche Filmlandschaft wieder etwas weiter ausholen kann. Früher, vor etwa zwanzig Jahren, war der deutsche Film ziemlich im Eimer. Er hatte kein Geld, zu wenig ausgebildete Leute. Die Filmschulen waren bei Weitem nicht so differenziert wie heute. Das Drehbuchschreiben war in die Hände weniger gegeben.
Nun kommen viele junge, sehr gut ausgebildete Leute von den Filmschulen und natürlich interessieren die sich auch für Geschichte. Das ist in anderen Ländern aber genauso. In Amerika ist das ganze Westerngenre ein Historisches. Ich finde nicht, dass das in Deutschland Überhand genommen hat. Naturgemäß sind geschichtliche Stoffe teurer, das konnten wir uns früher gar nicht leisten. Kostüme, Bauten- all das muss bezahlt werden.

Tobias Lentzler: Warum hat der deutsche Film in den letzten Jahren wieder so derartigen Erfolg?

Burghart Klaußner: Da gibt es viele Gründe. 1993- das kann ich gut beurteilen, denn ab da habe ich verstärkt Kinofilme gedreht, gab es einen Film namens „Kinderspiele“. Der war eine Initialzündung für vieles was danach kommt. Der Regisseur war Wolfgang Becker.- Die großen Erfolge kamen. „Alles auf Zucker“, „Die fetten Jahre sind vorbei“, die Oscars von Caroline Link und Florian Henckel von Donnersmarck. Das liegt mit daran, dass die Filmschulen inzwischen viel genauer und wie schon gesagt, differenzierter ausbilden. Warum das aber erst seit ein paar Jahren so ist, kann ich nicht beantworten. Ich frage mich das auch manchmal. 

Tobias Lentzler:  Was mögen wohl weitere Faktoren für den Erfolg des deutschen Filmes sein?


Burghart Klaußner: Man darf nicht vergessen, dass Kunst aus Deutschland nie ganz ohne Erfolg war, aber die Filmindustrie war damals  nicht so entwickelt. Wenn man an Fassbender denkt- das war ein riesiger internationaler Hype. Wim Wenders ohnehin. Nun sind es allerdings viele auf einen Schlag. Man kann nur hoffen, dass sich das fortsetzt.
Es ist ein Phänomen!

Tobias Lentzler:  Sie haben 2009 ihr erstes Theaterstück „Marigold“ auf die Bühne gebracht. Was war das für ein Gefühl und warum gerade zu diesem Zeitpunkt?

Burghart Klaußner: Das Schreiben ist eben die Königsdisziplin. Es gibt für Interpreten wie wir sie sind, eine Instanz die noch höher steht als wir. Das ist der Autor. Daher gibt es uns Schauspieler und Regisseure überhaupt. Wir interpretieren Autoren. Wenn man sich dessen bewusst wird und als selbstständig genug empfindet, dann will man irgendwann auch schreiben. Das kann manchmal lange dauern, ist aber kein Grund dies dann nicht doch irgendwann zu tun.
Eigentlich war dieses Stück ein Auftrag des Bochumer Theaters. Das wollte, dass ich ein Musical inszeniere und dann habe ich mir viele Musicals angeschaut. Die haben mich alle nicht sonderlich interessiert und da ich einiges mit Musiktheater und Musikabenden zu tun hatte dachte ich, klasse, dass mache ich selber. Da ich die Erfahrung hatte, dass auch viele jüngere Leute die Beatles mögen, dachte ich mir- ich mache ein Beatlesmusical . Zwanzig Titel habe ich ausgewählt und dann die Liste angeschaut. Womit könnte man beginnen? Mir war klar, dass müsste „Back in the USSR“ sein- und darum habe ich dann meine Geschichte aufgebaut. So hangelt man sich von Lied zu Lied. Was muss passieren, damit jemand plötzlich sagen kann: „[Baby You Can] Drive My Car“? Es hat viel Spaß gemacht sich Handlungsfäden entlang der Musik auszudenken.
In meinem Größenwahn habe ich das auch noch selber inszeniert. Das war stressig, denn die Zeit war eng bemessen. 180 Kostüme, 8 Musiker, 25 Mitwirkende- das war ein riesiges Unternehmen. Am Ende war es ein Riesenerfolg und hat unheimlich Spaß gemacht. Den Versuch würde ich aber trotzdem nicht zu hoch hängen. Es war mehr ein Libretto und hatte einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Insofern würde ich mich noch nicht als den geborenen Theaterautoren bezeichnen. Man leckt aber Blut und merkt- das kann Spaß machen!

Tobias Lentzler:  In der Welt bezeichnete man sie vor einigen Monaten (September 2010) als „Wortchirurgen“. Was meinen Sie dazu?

Burghart Klaußner: Das ist eine etwas alberne Worterfindung. Das soll wohl heißen, dass man mit den Worten genau umgeht. Bei der Beschäftigung mit Literatur bleibt das für einen Schauspieler auch nicht aus.

Tobias Lentzler: Wir kommen zu etwas Anderem: Wären wir ehrlicher oder verstünden wir unsere Welt besser, wenn wir uns mehr mit Kultur, Film und oder Literatur beschäftigten?

Burghart Klaußner: Sehr gute Frage. Antwort ja. Ich glaube wir entfalten unsere Sensibilität über Kunst und Kultur. Damit sind wir auch in der Lage die Probleme anderer Menschen und anderer Nationen zu verstehen und überhaupt zu erkennen. Ich finde das ist die zentrale Aussage von Kunst und Kultur und vor allem sollte dies ihr Hauptanliegen sein.

Tobias Lentzler: Wie ist es damit zurzeit in Deutschland bestellt? Gibt es genug Auseinandersetzungen damit? Genug öffentlichen Diskurs? Oder stagniert das zurzeit ein Wenig?

Burghart Klaußner: Das sind komplizierte Prozesse.  Darauf gibt es wohl grobe und feine Antworten. Eine grobe Antwort wäre- solange das Geld da ist und es allen gut geht, besteht kein Bedarf an existenzieller Auseinandersetzung damit. Nur einige Empfindsame werden diese Auseinandersetzung dann führen. Die Gesellschaft als Ganzes nicht. Da es uns nun einmal im Weltmaßstab sehr gut geht, sind wir einerseits in der Lage unsere künstlerischen Möglichkeiten sehr breit zu entfalten, weil wir das Geld dafür haben, zum anderen ist aber die Frage, welche Themen wir damit beackern. Das ist schwieriger zu beantworten. Worüber handeln unsere Filme, Romane, was malen unsere Maler, welche Themen hauen unsere Bildhauer in den Stein? Ich bin mir nicht so sicher, dass dies die Themen sind, die unsern ganzen Planeten beschäftigten. Da wird sich ja sehr oft auf das kleine Glück oder Unglück zurückgezogen. Es geht um die Frage: Wer bin ich? Wie werde ich erwachsen? Es geht um unglückliche Liebschaften und so fort. In der Diskussion über Theaterstücke gibt es immer wieder die Frage: Wo bleibt die Welthaltigkeit? Ein schreckliches Wort, aber es stellt sich eben die Frage, wo das Problem bleibt, dass die ganze Welt betrifft. Meist gehen die Diskussionen mit der Feststellung zu Ende, dass es diesen Aspekt in dem jeweiligen Stück nicht gibt.

Tobias Lentzler: Um noch mal auf den Anfang unseres Gespräches zurückzukommen: Mit wem wünschen Sie sich in den nächsten Jahren denn eine Zusammenarbeit? Sie können sowohl Schauspieler als auch Regisseure nennen. Zusätzlich: Welche Rollen würden sie gerne spielen?

Burghart Klaußner: Es gibt so viele Rollen die man spielen könnte. Gemeinhin münzt man die Frage ja auf Theaterstücke. Würdest Du gerne mal den Hamlet oder den Faust spielen. Das kann man alles machen. Es gibt viele wunderbare Rollen bei Shakespeare, Schiller- selbst Goethes Faust ist toll. Für manche Rollen ist man zu jung, für andere zu alt. Ich würde gerne mal Shylock aus Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ spielen, aber sobald eine andere tolle Rolle kommt, sage ich dieser auch nicht ab. Ich kann da überhaupt keine Festlegung machen.
Bei der Zusammenarbeit gibt es natürlich viele Namen, die ich nennen könnte und verehre. Ob das Oskar Roehler beim Film ist, Volker Schlöndorff  oder Sam Mendes (American Beauty).Tür und Tor sind offen- es gibt viele tolle Namen mit denen man arbeiten könnte. Interessanter als das finde ich allerdings die Antwort auf die Frage: Wie treibt man selber Sachen voran? Wie bringt man bestimmte Projekte ans Laufen? Wie kann ich Literatur in Filme umsetzen, wie finde ich ein gutes Netzwerk um Projekte umzusetzen; kurzum: Wie mache ich mich selbstständig? In der Kunst ist das ein entscheidender Punkt. Wenn ich Autor oder Regisseur bin, sind das beides Schritte in die Selbstständigkeit. Abgesehen von wirtschaftlichen Risiken ist das einfach die größere Freiheit. Daran bastelt man jeden Tag.
Das ist das was mich ständig beschäftigt.

Tobias Lentzler: Ein Stückchen Freiheit jeden Tag- ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Klaußner.

Burghart Klaußner: Vielen Dank meinerseits.








02 Juni 2011

Was ist aus Eurer Revolution geworden? – Gedanken zum Arabischen Frühling.

Das Jahr 2011 brachte für die arabische Welt viele Veränderungen mit sich. Autor Tobias Lentzler macht sich ein paar Gedanken über den Fort- und Ausgang des Arabischen Frühlings.

Langsam verblüht der 'Arabische Frühling' und der Sommer wird zeigen, inwieweit er den aufbegehrenden Menschen die Demokratie und Freiheit bringen konnte, wie stark die einzelnen Regime sind und wie groß ihr Ansehen im Ausland bleibt.
Die Bürger Ägyptens hatten im Februar 2011 als erstes Land nach Tunesien ihren Usurpator Husni Mubarak gestürzt - nach wochenlangen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, der nun zu einem unvermuteten Symbol der Macht der Bürger wurde. Anfangs schien den Ägyptern ein Neuanfang der Politik und eine neue Herrschaftsform vergönnt, doch nach nunmehr drei Monaten verblasst der Glaube daran merklich. Der Tahrir-Platz ist noch immer von Protestierenden besetzt - unterschiedlichste Gruppen und Vereinigungen von Menschen treten dort für ihre Rechte ein - und die Übergangsregierung beginnt mit Waffen- und Polizeigewalt dagegen vorzugehen. Das einzige Mittel scheint ihnen in ihrer Macht- und Hilflosigkeit das der Waffen zu sein. Niemand weiß wie man Einigkeit unter den Bürgern schaffen kann; keiner weiß, wie viel Demokratie Ägypten verträgt. Vielleicht weiß dies aber keiner, weil sich niemand wirklich darum schert!
Es ist das Recht eines jeden Ägypters auf die Straße zu gehen, es erscheint ihnen in diesen Tagen sogar eine Pflicht zu sein. Denn die Revolution könnte vergessen werden, könnte verblühen - so wie der Frühling in den Sommer übergeht. Denn woher sollten die ägyptischen Volksvertreter wissen, wie eine Demokratie funktioniert? Es wäre die erste in Ägypten. Deshalb braucht das Land Unterstützung aus anderen Staaten; das fordern Künstler des Landes am Nil und auch Politiker.
Der Sommer könnte eine große Veränderung bringen, das Land im wahrsten Sinne des Wortes "revolutionieren". Denn die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die Neubildung und Neuwahl des Parlaments stehen noch bevor.

In Libyen hingegen tobt seit dem diesjährigen März ein Bürgerkrieg. Die libysche Bevölkerung erwehrt sich gegen die Allmacht von Muammar Muhammad al-Gaddafi, dem Revolutionsführer von 1969, der seit 42 Jahren das Land beherrscht. Die UN beschloss in Folge der nicht abreißenden Welle der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen. Damit berechtigt sie die NATO zu Bombenangriffen auf libysche Militärstützpunkte. Seit dieser Zeit wurden schon über 3500 Luftangriffe geflogen. Doch bis heute sind vor allem die Rebellen-Stadt Bengasi und das belagerte Misrata stark umkämpft. Immer wieder drängen libysche Aufständische Gaddafis Truppen zurück. Im Land wünscht man sich mehr Hilfe von den westlichen Mächten. Nach fast dreimonatigem Kampf wirkt Machthaber Gaddafi zunehmend isoliert. Fünf Generäle und zahlreiche Soldaten desertierten. Diese Ereignisse werden von der NATO als Zeichen nachlassenden Rückhalts und dem baldigen Ende von Gaddafis Herrschaft gesehen.

Syrien versinkt ebenso im Bürgerkrieg. Hier demonstrieren tausende Bürger gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der sein Land gegen die Berichterstattung der Journalisten aus aller Welt in totalem Maße abschottet. - Die einzige Quelle über die man etwas erfährt, ist das Internet. Youtube-Videos von Demonstranten zeigen mit welcher Härte das syrische Regime gegen seine aufbegehrenden Bürger vorgeht.
Mehr als zehntausend Personen wurden seit Ausbruch der Revolution festgenommen. Größtenteils sind die Gefangenen politische Oppositionelle, Intellektuelle und Journalisten.

Der Sommer wird zeigen, wie wirksam das Aufbegehren der Bürger in Libyen, Syrien und Ägypten wirklich ist. Haben sie die Macht ihre Regierungen und Machthaber zu mehr Demokratie, Mitspracherecht und Freiheit zu bringen? Und wenn sie das können - haben sie die Stärke und das Durchhaltevermögen gegen mächtige Geheimdienste, gegen undurchschaubare Bürokratien und gegen das Militär vorzugehen?
Diese Länder brauchen Unterstützung. Die Ideen vieler Bürger, darunter Künstler, Gestalter und einfache Menschen sind vorhanden; bloß wer hilft ihnen diese Ideen durch- und umzusetzen?

Verblüht der Arabische Frühling oder trägt er die Früchte eines langen Sommers?   




06 Mai 2011

"Herzensprojekte sind sie alle!" - Jeanette Würl im Interview.

Das Inteview mit Jeanette Würl findet im April 2011 statt. Kennengelernt hatte ich die Redakteurin des NDR bei einem Praktikum im Jahre 2009. Damals wurde erstmals bekannt, dass Fatih Akin eine Komödie namens "Soulkitchen" drehen würde. Von den Umbrüchen in der Redaktion "Fernsehfilm" ahnten wir alle nichts. Einige Monate später wurde die leitende Redakteurin Doris J. Heinze auf Grund von Unredlichkeiten entlassen. Am 20.Juni 2011 starb Jeanette Würl nach schwerer Krankheit. 



Tobias Lentzler: Frau Würl, Sie sind eine Quereinsteigerin im Beruf der Redakteurin und Dramaturgin - was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen?

Jeanette Würl: Eigentlich war mein großer Traum Architektin zu werden. Das Thema meiner Diplomarbeit stand schon fest als der NDR mir eine Perspektive angeboten hat. Da die Abläufe Häuser zu entwerfen und Filme zu machen nicht so weit auseinander liegen, kam ich mir gar nicht so fremd vor. Der Film lässt allerdings noch mehr Fantasie zu und man hat den deutlichen Vorteil viel schneller auf gesellschaftsrelevante Themen zu reagieren. Die Möglichkeit Geschichten, ihre Menschen und Themen viel unmittelbarer erzählen zu können hat dann schließlich den Ausschlag für den Beruf als Redakteurin gegeben.

Tobias Lentzler: Können Sie sich nach wie vor mit Ihrem Beruf identifizieren?

Jeanette Würl: Ich freue mich sehr, dass mich dieser Beruf gefunden hat. Ich bin mir jeden Tag sehr bewusst, was für ein Geschenk ich in die Hand bekommen habe. Wichtig ist, dass man erkennen kann wo die eigenen Fähigkeiten liegen und dass man die Möglichkeit erhält diese in einen Beruf umzusetzen.

Tobias Lentzler: Inwieweit hat die Entlassung von Frau Doris J. Heinze die Redaktion Fernsehfilm verändert?

Jeanette Würl: Wenn jemand plötzlich verschwindet verändert das ein bestehendes Gefüge immer erst einmal. In diesem Fall war für uns als Redaktion zusätzlich belastend, dass die Ursache leider keine redliche war. Damit hatten wir in- und extern eine Zeit lang sehr zu kämpfen. Inzwischen gehen wir wieder einem arbeitsreichen aber auch geregelten Redaktionsalltag nach.

Tobias Lentzler: Wie sehr beeinflussen aktuelle Debatten in Politik und Medien den Ablauf eines Redaktionstages?

Jeanette Würl: Die fiktionalen Redaktionen versuchen diese Themen in ihre Fernseh- oder auch Kinofilme aufzunehmen. Im Idealfall sorgt das für zusätzliche Diskussionsgrundlagen. Außerdem bietet das Medium Film eine additive Perspektive, nämlich die des Zuschauers.

Tobias Lentzler: Woher nehmen Sie die Inspirationen für neue Drehbücher und Filmstoffe?

Jeanette Würl: Aus dem alltäglichen und aus dem speziellen des alltäglichen, so einfach und gleichsam schwer ist diese Frage zu beantworten. Ich versuche mich den Themen zu nähern, von denen ich meine, dass sie auch für unser Publikum von Interesse sein könnten. Über die heiklen Themen hinaus Unterhaltung, Freude und Humor eingeschlossen.

Tobias Lentzler: Was hat sich im Redaktionsablauf in den letzten Jahren verändert?

Jeanette Würl: Der Einfluss der Kommunikationsmedien und die Digitalisierung von Film beschleunigen die Arbeitsabläufe ungeheuer und ermöglichen ortsunabhängiges Arbeiten.

Tobias Lentzler: Nach welchen Kriterien nehmen Sie Drehbücher an oder lehnen sie ab?

Jeanette Würl: Erst einmal muss mich die Geschichte packen, und zwar so, dass ich sie erst zur Seite lege, wenn das Buch am Ende ist. Und dann darf es mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Inhalte dürfen vielfältig sein und reichen von der Tragödie über die Komödie bis hin zu gewagteren Genres wie z.B. Mocumentarys.

Tobias Lentzler: Was muss Ihrer Meinung nach ein guter Film leisten?

Jeanette Würl: Er muss mich packen und nicht mehr los lassen. Wenn ich ihn gesehen haben, sollte er nachhallen und für Gesprächsstoff sorgen. Auch das gilt übergreifend und für alle Genres.
Gegenfrage: An welchen Film, den Du kürzlich gesehen hast erinnerst Du Dich und warum?

Tobias Lentzler: An den  Dokumentarfilm "Frau Walter Jens" von Thomas Grimm. Der Intellektuelle Walter Jens leidet seit 2006 an Demenz. Nach der Lektüre des Buchs "Unvollständige Erinnerung" lies mich dieses so vertraute Ehepaar nicht mehr los.
Nun zu etwas anderem:
Der Film „Soulkitchen“ von Fathi Akin war ein großer Erfolg - hat ihm das nun die Angst vor dem Drehen von Komödien bzw. erheiternden und unterhaltenden Filmen genommen? - Was ist von ihm in nächster Zeit zu erwarten?

Jeanette Würl: Das Ziel von Akin für ‚Soul Kitchen‘ war eine Komödie zu erzählen und damit ein großes Publikum zu erreichen. Das hat er geschafft. Was sollte ihn daran hindern sich diesem Genre erneut zuzuwenden, wenn er es wollte. Ich denke, dass er derzeit an einem neuen filmischen Stilmittel arbeitet...  

Tobias Lentzler: Welches Filmprojekt liegt Ihnen besonders am Herzen? – Was wollten Sie schon immer einmal umsetzen?

Jeanette Würl: Eigentlich bin ich mehr als zufrieden mit dem was ich im NDR realisieren darf. Herzensprojekte sind sie alle. Derzeit freue ich mich auf den Kinostart von Tom Sawyer in der Regie von Hermine Huntgeburth, ich freue ich auf ein filmisches Abenteuer mit Studio Braun und Olli Dittrich in der Regie von Lars Jessen, im Mai drehen wir den nächsten Tatort nach Mankell in der Regie von Christian Alvart und natürlich fiebre ich schon dem kommenden Projekt mit Fatih Akin entgegen.

Tobias Lentzler: Gibt es Tabus im Fernsehen und wo setzten Sie diese an?

Jeanette Würl: Wenn man Geschichten erzählt sollte man sich grundsätzlich wagen in Abgründe zu schauen. Aber! Die Wahrung von angemessenen Erzählformen, Anstand, Würde und Verhältnismäßigkeiten muss in jedem Fall gesichert sein.

Tobias Lentzler: Der deutsche Film wird auch international zunehmend erfolgreich: Wie erklären Sie sich diesen Umstand?

Jeanette Würl: Wir haben wunderbare Talente in Deutschland, die endlich wahr genommen werden. Hurra! Wenn ich das Rezept dafür hätte, würde ich es sofort an alle verschenken...

Tobias Lentzler: Was ist Ihnen wichtiger: Quote oder Anspruch?

Jeanette Würl: Wir machen Filme um sie zu zeigen, und zwar möglichst vielen Menschen. Das eine darf das andere nicht ausschließen.

Tobias Lentzler: Was empfehlen Sie (jungen) Leuten, die in Ihrer Branche anfangen wollen?

Jeanette Würl: Grundsätzlich und immer vorab: eine gute Ausbildung, Initiative, dann viel Leiden- und Einsatzbereitschaft und Durchhaltevermögen.

Tobias Lentzler: Abschließend: Was wünschen Sie der deutschen Film- und Fernsehlandschaft?

Jeanette Würl: Weiterhin vielfältige Filme von wunderbaren Kreativen mit Inhalten über die wir im Gespräch bleiben.


Nachtrag vom 23.Juni 2011: 

Am 20.Juni 2011 starb Jeanette Würl nach schwerer Krankheit. Dieses Interview ist das Letzte, das geführt wurde. Die deutsche Filmlandschaft und vor allem ihre Angehörigen verlieren eine lebenslustige Frau, voll Begeisterung und Dankbarkeit für ihren Job. Sie war mit der Fähigkeit ausgestattet Menschen zu inspirieren und zu motivieren. Auch ihr ist es zu verdanken, dass ich die Praktikumszeit beim NDR im Januar 2009 immer in guter Erinnerung behalten werde und meine Faszination für Film und die Leidenschaft für gutes filmisches Handwerk nie abbrechen werden.
Ich verneige mich in Dankbarkeit und Erinnerung.