06 Mai 2011

"Herzensprojekte sind sie alle!" - Jeanette Würl im Interview.

Das Inteview mit Jeanette Würl findet im April 2011 statt. Kennengelernt hatte ich die Redakteurin des NDR bei einem Praktikum im Jahre 2009. Damals wurde erstmals bekannt, dass Fatih Akin eine Komödie namens "Soulkitchen" drehen würde. Von den Umbrüchen in der Redaktion "Fernsehfilm" ahnten wir alle nichts. Einige Monate später wurde die leitende Redakteurin Doris J. Heinze auf Grund von Unredlichkeiten entlassen. Am 20.Juni 2011 starb Jeanette Würl nach schwerer Krankheit. 



Tobias Lentzler: Frau Würl, Sie sind eine Quereinsteigerin im Beruf der Redakteurin und Dramaturgin - was hat Sie zu dieser Entscheidung bewogen?

Jeanette Würl: Eigentlich war mein großer Traum Architektin zu werden. Das Thema meiner Diplomarbeit stand schon fest als der NDR mir eine Perspektive angeboten hat. Da die Abläufe Häuser zu entwerfen und Filme zu machen nicht so weit auseinander liegen, kam ich mir gar nicht so fremd vor. Der Film lässt allerdings noch mehr Fantasie zu und man hat den deutlichen Vorteil viel schneller auf gesellschaftsrelevante Themen zu reagieren. Die Möglichkeit Geschichten, ihre Menschen und Themen viel unmittelbarer erzählen zu können hat dann schließlich den Ausschlag für den Beruf als Redakteurin gegeben.

Tobias Lentzler: Können Sie sich nach wie vor mit Ihrem Beruf identifizieren?

Jeanette Würl: Ich freue mich sehr, dass mich dieser Beruf gefunden hat. Ich bin mir jeden Tag sehr bewusst, was für ein Geschenk ich in die Hand bekommen habe. Wichtig ist, dass man erkennen kann wo die eigenen Fähigkeiten liegen und dass man die Möglichkeit erhält diese in einen Beruf umzusetzen.

Tobias Lentzler: Inwieweit hat die Entlassung von Frau Doris J. Heinze die Redaktion Fernsehfilm verändert?

Jeanette Würl: Wenn jemand plötzlich verschwindet verändert das ein bestehendes Gefüge immer erst einmal. In diesem Fall war für uns als Redaktion zusätzlich belastend, dass die Ursache leider keine redliche war. Damit hatten wir in- und extern eine Zeit lang sehr zu kämpfen. Inzwischen gehen wir wieder einem arbeitsreichen aber auch geregelten Redaktionsalltag nach.

Tobias Lentzler: Wie sehr beeinflussen aktuelle Debatten in Politik und Medien den Ablauf eines Redaktionstages?

Jeanette Würl: Die fiktionalen Redaktionen versuchen diese Themen in ihre Fernseh- oder auch Kinofilme aufzunehmen. Im Idealfall sorgt das für zusätzliche Diskussionsgrundlagen. Außerdem bietet das Medium Film eine additive Perspektive, nämlich die des Zuschauers.

Tobias Lentzler: Woher nehmen Sie die Inspirationen für neue Drehbücher und Filmstoffe?

Jeanette Würl: Aus dem alltäglichen und aus dem speziellen des alltäglichen, so einfach und gleichsam schwer ist diese Frage zu beantworten. Ich versuche mich den Themen zu nähern, von denen ich meine, dass sie auch für unser Publikum von Interesse sein könnten. Über die heiklen Themen hinaus Unterhaltung, Freude und Humor eingeschlossen.

Tobias Lentzler: Was hat sich im Redaktionsablauf in den letzten Jahren verändert?

Jeanette Würl: Der Einfluss der Kommunikationsmedien und die Digitalisierung von Film beschleunigen die Arbeitsabläufe ungeheuer und ermöglichen ortsunabhängiges Arbeiten.

Tobias Lentzler: Nach welchen Kriterien nehmen Sie Drehbücher an oder lehnen sie ab?

Jeanette Würl: Erst einmal muss mich die Geschichte packen, und zwar so, dass ich sie erst zur Seite lege, wenn das Buch am Ende ist. Und dann darf es mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Inhalte dürfen vielfältig sein und reichen von der Tragödie über die Komödie bis hin zu gewagteren Genres wie z.B. Mocumentarys.

Tobias Lentzler: Was muss Ihrer Meinung nach ein guter Film leisten?

Jeanette Würl: Er muss mich packen und nicht mehr los lassen. Wenn ich ihn gesehen haben, sollte er nachhallen und für Gesprächsstoff sorgen. Auch das gilt übergreifend und für alle Genres.
Gegenfrage: An welchen Film, den Du kürzlich gesehen hast erinnerst Du Dich und warum?

Tobias Lentzler: An den  Dokumentarfilm "Frau Walter Jens" von Thomas Grimm. Der Intellektuelle Walter Jens leidet seit 2006 an Demenz. Nach der Lektüre des Buchs "Unvollständige Erinnerung" lies mich dieses so vertraute Ehepaar nicht mehr los.
Nun zu etwas anderem:
Der Film „Soulkitchen“ von Fathi Akin war ein großer Erfolg - hat ihm das nun die Angst vor dem Drehen von Komödien bzw. erheiternden und unterhaltenden Filmen genommen? - Was ist von ihm in nächster Zeit zu erwarten?

Jeanette Würl: Das Ziel von Akin für ‚Soul Kitchen‘ war eine Komödie zu erzählen und damit ein großes Publikum zu erreichen. Das hat er geschafft. Was sollte ihn daran hindern sich diesem Genre erneut zuzuwenden, wenn er es wollte. Ich denke, dass er derzeit an einem neuen filmischen Stilmittel arbeitet...  

Tobias Lentzler: Welches Filmprojekt liegt Ihnen besonders am Herzen? – Was wollten Sie schon immer einmal umsetzen?

Jeanette Würl: Eigentlich bin ich mehr als zufrieden mit dem was ich im NDR realisieren darf. Herzensprojekte sind sie alle. Derzeit freue ich mich auf den Kinostart von Tom Sawyer in der Regie von Hermine Huntgeburth, ich freue ich auf ein filmisches Abenteuer mit Studio Braun und Olli Dittrich in der Regie von Lars Jessen, im Mai drehen wir den nächsten Tatort nach Mankell in der Regie von Christian Alvart und natürlich fiebre ich schon dem kommenden Projekt mit Fatih Akin entgegen.

Tobias Lentzler: Gibt es Tabus im Fernsehen und wo setzten Sie diese an?

Jeanette Würl: Wenn man Geschichten erzählt sollte man sich grundsätzlich wagen in Abgründe zu schauen. Aber! Die Wahrung von angemessenen Erzählformen, Anstand, Würde und Verhältnismäßigkeiten muss in jedem Fall gesichert sein.

Tobias Lentzler: Der deutsche Film wird auch international zunehmend erfolgreich: Wie erklären Sie sich diesen Umstand?

Jeanette Würl: Wir haben wunderbare Talente in Deutschland, die endlich wahr genommen werden. Hurra! Wenn ich das Rezept dafür hätte, würde ich es sofort an alle verschenken...

Tobias Lentzler: Was ist Ihnen wichtiger: Quote oder Anspruch?

Jeanette Würl: Wir machen Filme um sie zu zeigen, und zwar möglichst vielen Menschen. Das eine darf das andere nicht ausschließen.

Tobias Lentzler: Was empfehlen Sie (jungen) Leuten, die in Ihrer Branche anfangen wollen?

Jeanette Würl: Grundsätzlich und immer vorab: eine gute Ausbildung, Initiative, dann viel Leiden- und Einsatzbereitschaft und Durchhaltevermögen.

Tobias Lentzler: Abschließend: Was wünschen Sie der deutschen Film- und Fernsehlandschaft?

Jeanette Würl: Weiterhin vielfältige Filme von wunderbaren Kreativen mit Inhalten über die wir im Gespräch bleiben.


Nachtrag vom 23.Juni 2011: 

Am 20.Juni 2011 starb Jeanette Würl nach schwerer Krankheit. Dieses Interview ist das Letzte, das geführt wurde. Die deutsche Filmlandschaft und vor allem ihre Angehörigen verlieren eine lebenslustige Frau, voll Begeisterung und Dankbarkeit für ihren Job. Sie war mit der Fähigkeit ausgestattet Menschen zu inspirieren und zu motivieren. Auch ihr ist es zu verdanken, dass ich die Praktikumszeit beim NDR im Januar 2009 immer in guter Erinnerung behalten werde und meine Faszination für Film und die Leidenschaft für gutes filmisches Handwerk nie abbrechen werden.
Ich verneige mich in Dankbarkeit und Erinnerung.