18 Dezember 2012

Mitteilsamkeit macht uns angreifbar. – Ein Kommentar.

Das deutsche Datenschutzgesetz gilt als eines der striktesten der Welt. Die Achtlosigkeit, in der wir unsere persönlichen Daten ins Internet stellen, droht dieses auszuhöhlen. Ein Kommentar.


Warum verurteilen wir sexuellen Missbrauch und zucken mit den Schultern, wenn unsere Daten missbraucht werden? Beinahe die Hälfte aller Westdeutschen lehnte vor 25 Jahren eine geplante Volkszählung ab, die Daten wie die Konfession oder die Einkommensverhältnisse abfragen sollte. Heute stellen wir viele solcher Informationen ganz freiwillig ins Netz. Wir haben verlernt zwischen sensiblen und unwichtigen Daten zu unterscheiden. Vor allem unser Verhalten in sozialen Netzwerken trägt dazu bei. Hier kombinieren wir etwas so Sensibles wie die politische Gesinnung mit banalen Statusanzeigen wie „Schönes Wetter heute“. Unsere Mitteilsamkeit im Internet macht uns angreifbar. Im Vergleich zu 2010 wurden 2011 zwanzig Prozent mehr Straftaten im Internet verübt. Seiten, die zum Beispiel unsere Kreditkartennummer verlangen, überfliegen wir bloß noch. Nie überprüfen wir den Betreiber. – Wir laden Hacker und Großkonzerne durch unsere Gutgläubigkeit geradezu ein, unsere Daten zu schänden. Aus Angst, dass der Staat unsere Daten missbrauchen könnte, erstritten sich Bürger 1983 das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“; ein Meilenstein für unser heutiges Datenschutzgesetz, welches als eines der striktesten der Welt gilt. Datenschutz ist ein Grundrecht, das in einer Welt, die sich ein Pendant im Internet geschaffen hat, immer kostbarer wird. – Da ein Großteil unseres Lebens inzwischen untrennbar mit dem Netz verbunden ist – durch Online-Shopping, beispielsweise – sollten wir unser vielleicht wichtigstes Grundrecht achten. Nietzsche irrte, als er sagte: „Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen“. Je kopfloser wir uns im Netz bewegen, desto größer wird die Gefahr, dass unsere Daten missbraucht werden. Bürger vor 25 Jahren ahnten das. Wir sind weit davon entfernt.

07 Dezember 2012

Der falsche Moment, um zu gehen. – Ein Nachruf auf die "Financial Times Deutschland".

Am 7. Dezember 2012 erscheint unter dem Titel "Endlich schwarz" die letzte Ausgabe der "Financial Times Deutschland". In einer Welt, die von einer Wirtschaftskrise in die nächste schlittert, wird die FTD Deutschland fehlen.


Die Redaktion der FTD  "entschuldigt" sich für ihr jahrelanges und wichtiges Wirken
(Screenshot der FTD-Webseite am 07.12.2012 um 14:37 Uhr)
Die letzte Ausgabe der "Financial Times Deutschland" ist mit "Endlich schwarz" überschrieben. Das ist ein bissiger Verweis darauf, dass die FTD seit ihrer Gründung kein einziges Mal schwarze Zahlen geschrieben hat und bis zu ihrem Aus dem Verlag Gruner+Jahr einen Verlust von über 250 Millionen Euro einbrachte. - Als die FTD vor zwölf Jahren auf den Markt ging, begannen sich in der Medienbranche langsam Umbrüche abzuzeichnen. Das Internet wurde von Jahr zu Jahr eine wichtigere Informationsquelle, nach und nach zog es immer mehr Printzeitungen ins Netz. Doch kaum ein Blattmacher konnte den rasanten Aufstieg des Internets als Informationsmedium und neues Medium für Nachrichten, Reportagen, Kommentare oder Essays vorhersagen oder vorhersehen. Vielleicht verschlossen einige auch ihre Augen davor. - Doch nicht alleine daher schrieb die FTD niemals schwarze Zahlen. Mit ihrer wirtschaftlich-politischen Ausrichtung wollte sie eine Marktlücke erobern und blieb doch immer nur eine Randerscheinung. In großen Unternehmen und von Interessierten wurde sie gelesen - mal mit Skepsis und Angst auf Unternehmerseite, dann wiederum mit Begeisterung und Begierde von Interessierten. Die FTD enthüllte über die Jahre viele geheime Machenschaften großer Wirtschaftsunternehmen - z.B. dass ehemalige Stasi-Spitzel für die Deutsche Telekom spionierten oder wie es wirklich um die Hypo Real Estate stand. Doch all diese journalistischen Glanzstücke halfen nicht. Viele junge Journalisten, oftmals Absolventen der Henri-Nannen-Schule, begannen ihre Karrieren bei der FTD, sie formten das Blatt mit und gaben ihm einen qualitätsjournalistischen Anstrich. Es ist zu vermuten, dass große Unternehmen aufgrund der Angst vor Enthüllungen in ihren eigenen Häusern weniger Anzeigen in der FTD als anderswo schalteten. Zusätzlich brach der Anzeigenmarkt in den Printmedien immer weiter ein. Am 07.Dezember 2012 endet also eine Ära. Eine wichtige deutsche Tageszeitung verschwindet aus den Kiosken, aus dem Internet, irgendwann vielleicht aus den Köpfen. Viele Journalisten verlieren ihre Arbeit und müssen auf dem ohnehin hart umkämpften Medienmarkt ihre Ellbogen einsetzen. Es ist ihnen allen zu wünschen, dass sie sich behaupten können. - Dem deutschen Zeitungsmarkt ist zu wünschen, dass er möglichst bald wichtige Aufgaben und Tugenden der FTD annimmt und ausgleicht. In einer Welt, die in eine Wirtschaftskrise nach der anderen Schlittert und das Vertrauen in Politiker erschütterter ist denn je, braucht es eine starke journalistische Stimme, die sich mit Wirtschaft und Politik auskennt, auseinandersetzt und ein Stimmgewicht hat. Es ist der falsche Moment, um eine Zeitung für Wirtschaft und Politik aus wirtschaftlichen Gründen gehen zu lassen, liebe Verantwortliche von Gruner+Jahr. 
Die FTD wird Deutschland fehlen! So wie sich die Redaktion vor uns verneigte, verneige ich mich vor allen Mitarbeitern der FTD und wünsche ihnen alles Gute!


23 November 2012

Kommentar: Die Zeit(ung) ist kaputt.

Aus gegebenem Anlass geht es in diesem Kommentar um die Lage auf dem deutschen Printzeitungs-Markt und darum, wie die Zukunft des Journalismus aussehen könnte.

Auch ein selbsternannter Dinosaurier hat die "Frankfurter Rundschau" nicht retten können. Trotz des mehrjährigen Einsatzes des Verlegers Alfred Neven DuMont (85) musste der Verlag Druck- und Verlagshaus Frankfurt am Main GmbH, der die FR herausgibt, im November 2012 Insolvenz anmelden. Niederschmetternd ist diese Nachricht nicht nur für die Tageszeitungen-Landschaft, welche, ohnehin schrumpfend, ein echtes Traditionsblatt verlieren könnte, sondern auch für die vielen Redakteure der FR. Vor einem Jahr fragte die "taz": "Wohin mit den Edelfedern?" Denn erst letztes Jahr hatte ein Großteil der Redaktion der FR nach Berlin umziehen müssen, weil die Redaktionen der "Berliner Zeitung" und der FR zusammengelegt worden waren. Nur der Lokalteil der FR kam noch aus Frankfurt. Wo Frankfurt draufstand war also schon länger kein Frankfurt mehr drin! Die Frage nach dem "Wohin?", stellt sich nun erneut. Der Niedergang eines Traditionsblattes zeigt die mehr als angespannte Lage auf dem Printmarkt. Nachrichten können mit einem Klick per Internet abgerufen werden, Smartphones und Tablet-Computer sorgten für die Revolution der ständigen Abrufbarkeit derselben. Die Anzeigenbuchung in den Printzeitungen bricht ein und ebenso gehen fast bei allen Zeitungen die Auflagen zurück. Mit Internetseiten verdient jedoch kaum eine Zeitung oder ein Magazin viel Geld. Bloß "SPIEGELonline" und der österreichische "Standart" (er ist online sogar rentabler als seine Print-Ausgabe) sind Gewinner des digitalen Wandels. Beim "Spiegel" arbeiten online inzwischen über 100 Redakteure. Eine Welt voller Tweets, Sonder- und Eilmeldungen, überquillenden Mediatheken und einer unerhörten Auswahl an Blogs und Webseiten, überfordert die meisten Menschen.
Fotografin: Herzlich-t; http://www.jugendfotos.de/people/Herzlich-t,
Rechte:http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de
Es bedarf einer gelungenen und umsichtigen Auswahl von Informationen und eine kluge Aufbereitung derselben. Dies ist die vielleicht wichtigste Aufgabe von Journalisten im Zeitalter des "Digitalismus". Dies zumindest gilt für die Internetauftritte der Zeitungen und Magazine. Sie müssen nicht nur eine Ergänzung zur Printausgabe der Zeitung bilden, sondern müssen eine andere Zeitung beziehungsweise ein anderes Magazin sein. Matthias Müller von Blumencron, Chefredakteur der Online-Angebote des "Spiegel" formuliert es so: "Ich bin fest davon überzeugt, dass Papier als Form bleibt. (...) Es wird aber so sein, dass der digitale SPIEGEL sich schon deutlich mehr als jetzt vom gedruckten unterscheiden wird." Stefan Aust, ehemaliger Chefredakteur des SPIEGEL, erkannte das und machte den SPIEGEL online zu einem der führenden Informationsmedien Deutschlands. Viele Verlage haben die Zeichen der Zeit nicht gesehen oder sehen wollen. Für viele ist es nun zu spät. Die FR ist eines der traurigsten Beispiele für den Niedergang der gedruckten Tageszeitungen. 
Für guten Journalismus jedoch ist noch nicht alles verloren. Neue Konzepte, Web-Auftritte, Print- und Online-Layouts sowie eine bessere Abgrenzung der digitalen Ausgabe zur Print-Ausgabe, können nicht nur Verlage retten, sondern auch die Arbeitsplätze eifriger und guter Journalisten. Für die Aufgaben des Journalismus im 21.Jahrhundert braucht es junge, schreibwütige Nachwuchsjournalisten, risikobereite Verlage und eine gehörige Portion Selbstbewusstsein. Erich Kästner schrieb: "Die Zeit ist kaputt." Zurzeit sind es auch die Zeitungen. Doch der Journalismus, vor allem der Qualitätsjournalismus ist noch lange nicht am Ende. Die "ZEIT" und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" konnten sogar die Auflage ihrer Printausgaben steigern können!



Nachtrag: Während dieser Artikel geschrieben wurde, verkündete der Verlag Gruner+Jahr das Aus der "Financial Times Deutschland". Am 7. Dezember soll die letzte Ausgabe erscheinen.

02 Oktober 2012

Musikrezension: "Hallo Welt!" von Max Herre – Ein Ruf nach Empörung.

Im August diesen Jahres legte Max Herre, bekannt als Solokünstler und Mitbegründer des deutschen HipHop/Rap-Kollektivs "Freundeskreis", sein drittes Soloalbum "Hallo Welt!" vor. Es begeistert mit tiefgründigen Texten, Wutschreien, Soulelementen – und vor allem gutem Rap!

Viele Künstler versuchen sich im Laufe ihrer Karriere immer wieder neu zu erfinden, um für den Markt interessant zu bleiben. Max Herre kehrt zu seinen Wurzeln zurück. Und beweist damit eine Haltung, die er auf dem ganzen Album vertritt. Es geht um künstlerische und persönliche Freiheit sowie Wut über Liebe, Menschen, Politik. "Hallo Welt!" ist ein überaus gelungenes Rap-Album mit Einsprengseln aus Soul und Pop, Blues und Easy Listening. Einige Songs sind teils satt untermalt und betonen die Wut (z.B. "Jeder Tag zuviel"), die Herre sich mit diesem Album von der Seele zu singen scheint. Andere Songs wie "DuDuDu" hingegen tänzeln leicht daher und verbreiten ein gutes Gefühl. Zudem überrascht "DuDuDu" mit einem Refrain, den Herre mit Falsettstimme singt - nicht nur diese Tatsache macht ihn zu einem der Besten des Albums. 
Dass Herre rappen kann und das seine Texte bis ins feinste Detail nachgeschliffen werden, weiß man nicht erst seit heute. Schon 1997 debütierte er mit seiner Gruppe "Freundeskreis" mit dem fabelhaften Album "Quadratur des Kreises". Seitdem hat er viele Stile für sich entdeckt und ausprobiert. Reggae und Rock sind nur zwei davon. Herre kann in "Hallo Welt!" somit aus einem großen Reservoir  schöpfen, die Stile miteinander fusionieren, aufeinander abstimmen und das Album schließlich konzeptionieren. Einige Songs gehen nahtlos ineinander über, immer wieder werden die Songs aber auch von Stimmen oder Effekten unterbrochen. Das ist vielleicht der einzige Wermutstropfen, den das Album zu bieten hat. Vor allem in "Jeder Tag zuviel" bricht der Song bei einem großartigen Outro, das eine Backgroundsängerin mit souliger Stimme singt, unverständlicherweise mitten in einer Songzeile ab! Es klingt als würde eine Plattennadel von einer Schallplatte abrutschen. Das berühmte "Scratch-Geräusch" entsteht. - Viele Songs singt Herre mit Features. Samy Deluxe, Cro, Aloe Blacc und Marteria sind nur vier von ihnen. Samy Deluxe und Max Herre singen in "Einstürzen Neubauen" von "zu vielen Gutmenschen und zu wenig Wutbürgern", wie es Herre formuliert. Die beiden Rapper treiben sich gegenseitig zu Höchstleistungen. Herre klingt wütend, Deluxe schnodderig wie in seinen ersten Tagen (z.B. wie in "Füchse" mit den Beginnern). -
2010 veröffentlichte Stéphane Hessel das Büchlein "Empört Euch!" im Alter von 93 Jahren. Max Herre (39) nimmt sich dies zu Herzen, setzt hinter den Albumtitel ein Ausrufezeichen und empört sich. Er empört sich für all diejenigen, die es noch nicht tun und er empört sich darüber, dass sie es noch nicht tun. "Hallo Welt!" ist ein Ausrufezeichen - das beste deutsche Album des Jahres. Nach mehrmaligem Anhören wird erst klar, wie hart erarbeitet es ist und dass Herre versucht uns alle zu erreichen. Es ist ihm gelungen.

Wertung: 9/10

01 Oktober 2012

Filmrezension: "Moonrise Kingdom" – Ausriss ins Paradies.

Wes Anderson ist bekannt dafür, dass seine Kinofilme sich fernab des Hollywood-Mainstreams bewegen und doch immer wieder Anknüpfungspunkte für ein breites Publikum finden. Sein Trick: Er macht alles bloß ein bisschen anders. 

Ein bisschen erinnert Wes Anderson an Richard David Precht. Beide haben langes, braunes Haar, tragen gerne Cord-Sakkos und haben Philosophie studiert. Doch anstatt von "Populärphilosophie" zu leben, macht Anderson Filme. Einzigartige, phantasievolle Filme. Im Sommer 2012 erschien nun Andersons neuster Film 'Moonrise Kingdom'. Ein Film, der die Genres Komödie, Roadmovie und Tragödie streift und sie am Ende doch ganz und gar nicht berührt. 'Moonrise Kingdom' ist eine Reise. Eine Reise in die Vergangenheit, an fiktive Orte. Er lotet Tabus aus, bricht mit den üblichen Erzählformen des modernen Kinos und unterhält. 97 Minuten lang befindet sich der Zuschauer auf der von Wes Anderson und Roman Coppola geschaffenen fiktiven Insel New Penzance Island vor der Küste New Englands. Der Film schreibt das Jahr 1965. Die Bewohner leben in einer Welt voll blasser Farben - vornehmlich rosa, rot, blau und gelb - und niedlich in die Landschaft drapierter Häusschen. Unter der Oberfläche jedoch verlaufen tiefe Konfliktlinien. Suzy Bishop (gespielt von der herausragenden Debütantin Kara Hayward) und Sam Shakusky (Jared Gilman) fliehen vor ihren Verpflichtungen und Problemen. Gemeinsam schlagen sie sich in die Wildnis und beginnen sich ineinander zu verlieben. Suzy wird von ihren Eltern (Bill Murray und Frances McDormand) und ihren drei jüngeren Brüdern für psychisch labil und gestört gehalten. Sie hat keinerlei soziale Kontakte und beobachtet die Welt lieber durch ihr Fernglas und versinkt in Fantasyromanen, die von Wesen mit besonderen Kräften handeln. Sam erklärt sie, mit dem Fernglas sei alles näher dran und sie sehe mehr.  Sie halte diese für ihre magische Kraft, berichtet sie weiter. Sam Shakusky ist bei den Pfadfindern, hat dort jedoch einen schweren Stand. Niemand kann ihn leiden. Seine Eltern sind tot und seine Pflegeeltern wollen ihn nicht mehr aufnehmen. Mit dem Ausriss von Sam und Suzy beginnt eine irrwitzige Verfolgungsjagd, die von einem "Jahrhundertsturm" erschwert wird und die Geschichte einer Liebe, die sich manch ein erwachsenes Paar wünschen würde. Wes Anderson überzieht das Klischee der ersten Liebe sowie der ernsthaften Liebe köstlich mit gekonnten, wenngleich kleinen Hinweisen und Situationen. Dass diese Liebe nichts trennen kann, zeigt die Schlusseinstellung des Filmes. Der Ort an dem sich Suzy und Sam das erste Mal küssten, verschwand im Sturm, doch auf einem Bild hält Sam ihn fest. Auf der Leinwand findet sich der neue Name für den Ort, der so besonders für Suzy und Sam war. Moonrise Kingdom. Gemalt als hätten die Beiden Kieselsteine an den Strand gelegt und damit diese beiden Worte geformt. - Anderson, der mit 'Moonrise Kingdom' seinen siebten Spielfilm vorlegte, überzeugt bis ins kleinste Detail. Das Ensemble, bestehend aus großen Namen, ist sich für keine skurrile Situation zu schade, die Kinderdarsteller Kara Hayward und Jared Gilman überzeugen in jeder Szene und die Dialoge sowie das Set sind ein Genuss. Jedes Detail scheint geplant, jeder Dialog geschliffen. Anderson hat den Ausriss als Reise inszeniert, die in einem scheinbaren Paradies stattfindet. Doch Innen lauern immer wieder Gefahren, die einem (jungen) Menschen das Glück verwehren. - 
Zumindest mit diesem Film schafft Wes Anderson ein Stückchen Glück.

9/10

10 September 2012

Maßvoll und genügsam. (Version II)

 Diesen Essay veröffentlichte Autor Tobias Lentzler bereits Anfang des Jahres auf kulturlog. Nach einem Aufenthalt in Amerika ist er noch um einige Gedanken ergänzt worden.

Klein und fast unscheinbar, so stellt sich ein lohnenswerter Lebensmoment für den österreichischen Philosophen Robert Pfaller dar. Anfang des vergangenen Jahres erschien in der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" ein Essay mit dem Titel "Wofür es sich zu leben lohnt". Angelehnt war er an Pfallers im März 2011 erschienenes, gleichnamiges Buch (S.Fischer Verlag). In diesem Essay geht es vor allem darum, dass die gesellschaftliche Individualisierung uns des Genusses eines Moments beraubt habe. Das ständige Abenteuer Leben, so ist Pfaller zu verstehen, verhindere den Genuss des Lebens selbst. Momente in "denen das Abenteuer Pause macht" seien wichtig, um den Momenten selbst eine eigene Bedeutung beimessen zu können. Maßvoll, aber mit gedoppelter Vernunft sollen wir nach Pfaller genießen. Die einfache Vernunft, in der wir heute leben, sei gar keine wirkliche Vernunft, so der Philosoph. "Momente kindlicher Unvernunft" nennt Pfaller hingegen die gedoppelte Vernunft und verzeiht einem Menschen selbige. Auch Epikur beschreibt eine Art der gedoppelten Vernunft: "Es gibt auch im kargen Leben ein Maßhalten. Wer dies nicht beachtet, erleidet Ähnliches wie derjenige, der in Maßlosigkeit verfällt." Nach Pfaller ist das "Ab-und-zu-maßlos-werden" also notwendig, um zu fühlen, wofür es sich zu leben lohnt. 
Epikur allerdings war der Meinung, dass sich das Leben in zwei grundsätzliche Sinneswahrnehmungen einteilen ließe - den Schmerz und die Freude. Ziel des Lebens sei es den Schmerz zu tilgen und die Freude - im Wissen um die Einmaligkeit und Endlichkeit seines eigenen Lebens - zum Ziel aller Empfindungen zu machen. Dies ist nach Epikur allerdings nur möglich, wenn man sein Leben maßvoll und genügsam führt. Prasserei und Völlerei, Trinkgelage und überbordenden Luxus verachtete und verurteile er. Trotzdem wurde seine Philosophie später so ausgelegt.
Ein bisschen Epikureismus könnte den überschnellen Zeiten in denen sich Armut und Reichtum auf das Perverseste gegenüberstehen und in denen wir leben, guttun. Epikurs Philosophie entstand in einer Zeit, als Athen seine Macht als Stadtstaat verlor und die freien Athener Bürger ihre Rechte einbüßten. Die ständige Angst vor neuer Schikane und göttlichem Zorn veranlasste Epikur dazu seine Theorien von Göttern unabhängig zu machen (diese verlebten ihr Leben in völliger Glückseligkeit in der Zwischenwelt ohne die Menschen zu beeinflussen oder zu strafen) und nur das eigene Wohl eines jeden Einzelnen in den Mittelpunkt zu rücken. Das Sich-von-der-Angst-losmachen, das Streben nach Freude durch die Erkenntnis der Welt durch seine Sinne und die Loslösung aus gesellschaftlichen Zwängen, bildeten das Zentrum von Epikurs Philosophie der Freude. - Heute könnte sie wichtiger sein denn je. Über uns allen schweben Ängste - Verlustängste. Wir befürchten Krisen, Kriege, Katastrophen, die Entwertung unseres Geldes und den Verlust unserer hart erarbeiteten Lebensqualität. Unsere zornigen Götter mischen noch immer unsere Gemüter auf; nur ihre Gestalt hat sich gewandelt. Komfort und Entertainment sind uns alles - wir sind uns nichts.
Das alleinige Denken in Wirtschafts- und Gesellschaftskategorien macht uns unempfänglich für Momente lohnenswerter Lebensäußerungen. Seien dies das Beieinandersitzen bei einer Tasse Kaffee, ein drittklassiger (und in verschiedener Menschen Augen erstklassiger) Sonnenuntergang oder das Lesen eines guten Buches. Hier treffen Epikur und Pfaller wieder zusammen: Mit ein bisschen Anstrengung lohnt sich das Leben.
Ob nun Epikur recht hat, der die geistige Freude als eine individuelle definiert, oder Pfaller, der unsere Geselligkeit und damit die Empfänglichkeit für authentisch Lohnenswertes wieder erstarkt sehen will, bleibt in meinen Augen einem jeden Leser überlassen. Philosophien sind nie ein Zwang und müssen sich auch nicht immer einem Masseninteresse beugen - sie sollen uns nur inspirieren. Und in diesem Falle inspiriert uns die Philosophie zu einem freudvolleren, lohnenswerten Leben mit Maß und Genügsamkeit!

Vielleicht ist gerade die Fähigkeit zwischen Schmerz und Freude unterscheiden zu können, die Schnittstelle an der ein Mensch über sein Glück oder Unglück entscheidet. Denn auch ein Gefühl des Schmerzes kann von uns in ein Gefühl von Glück verwandelt werden. Dafür allerdings bedarf es Einfühlungsvermögen in einen selbst, Ruhe und Zeit. 

15 Mai 2012

Bernd Begemann – Seiner Zeit voraus. Eine persönliche Betrachtung.

Den Ausschlag für diesen Text gab ein Konzert, dass Bernd Begemann mit seiner Band "Die Befreiung" am 11. Mai im "Knust" in Hamburg gab. Aus dem Stehgreif improvisierte er mit seiner Band einen Song mit ausgefeiltem Text. 

Bernd Begemann ist ein freundlicher, stattlicher und großer Mann mit einer tiefen, männlichen, wirksamen und dennoch zurückhaltenden- und teils Silben verschlingenden Stimme. Er ist eine Erscheinung. Er trägt bei seinen Konzerten Anzüge in beige und hellrosafarbene Hemden. Ein Musiker, der in seiner Musik lebt. In den Charts gibt es solche Typen wie ihn nicht. Jeder hat sich dort schon einmal für den Erfolg verbogen. - Ich habe Bernd Begemann letztes Jahr im Juli zufällig entdeckt; sein Song "Weil wir weg sind" erschien gerade auf einer CD des "Musikexpress". Er war eine Auskopplung des Albums „Wilde Brombeeren“ von „Bernd Begemann & Die Befreiung“. Ich war sofort beeindruckt: Einen deutschen Musiker mit derartigem Groove und so "undeutschen" Texten, hatte ich nie zuvor gehört. Begemann schreibt Songs, die es schaffen das "Typisch Deutsche" verschwinden zu lassen; die Melancholie, die verquarzte Art über Liebe und Sex zu sprechen, die düsteren Gedanken zum Ende einer Beziehung, die Heimatlosigkeit.
Bernd Begemann macht sich darüber lustig. Mit Texten, die auf den ersten Blick simpel und erst auf den zweiten Blick unglaublich hart erarbeitet und poetisch und beeindruckend klingen. Sie haben Kraft, transportieren eine Botschaft, sind humorvoll, lebendig, heiter - auch wenn es um die Unerreichbarkeit einer Verehrten, die Unrast in einer schnellen Welt oder das Thema "Heimat" geht. Während der deutsche Künstler Stefan Strumbel fragt: "What the fuck is Heimat?" und diese Sprüche auf Kuckucksuhren druckt, singt Begemann über seine Erfahrungen und Berührpunkte mit dem Gefühl, dem Begriff Heimat. Er singt über bereiste Städte, Kleine und Große, in denen die Menschen wohnen, die Heimat so definieren wie er sie besingt. Er ist nicht nur ein Beobachter, wenn er Texte und Melodien schreibt; vor allem ist er selbst die Person, die Erfahrungen macht.
Seit über zwanzig Jahren reist Bernd Begemann mit seinem Auto durch Deutschland, spielt in den kleinsten Städten und auf den winzigsten Bühnen vor manchmal zwanzig zahlenden Zuschauern. Er lebt für seine Musik. „Ein Musiker sollte Musik machen“, sagt er Anfang 2012 in einem Interview mit „kulturlog“. Begemann ist nicht an Geld oder Erfolg oder Ruhm interessiert. Ihn interessieren Menschen, Stimmungen, Gefühle. Er liebt Bücher und Filme, kennt sich in verschiedensten Musikszenen von den Charts bis in die speziellsten Ecken blind aus und schafft es seinen Gesprächspartner zu fesseln, zu begeistern. Begemann war der Erfinder des deutschen Folk mit Elektronik-Elementen und ein Pionier der Singer/Songwriter-Kultur. Heute macht das jeder. Vor zwanzig Jahren musste sich Begemann dafür entschuldigen, dass er Deutsch sang. Von dem Genre ganz zu schweigen. Er ist seiner Zeit voraus. Weit voraus. Immer auf der Suche nach neuen Songs, die hinter die Fassade von Menschen, Deutschland und sich selbst blicken. Begemann ist ein Erfinder, ein Bewahrer, ein Schwergewicht der deutschen Indie-Szene. Schade eigentlich, dass viele ihn nicht kennen. Seine Konzerte sind ein Erlebnis. Begemann gibt den Eigenwilligen, den Unverstandenen, den Meister, den Erfinder. Er entblättert seine Charaktereigenschaften auf der Bühne so wie er sein Hemd weit und weiter aufknöpft – und das Publikum lacht. Es bemerkt nicht, dass Begemann die Wahrheit sagt. Er ist ein Meister, er ist ein Unverstandener. Und er ist erst recht ein Erfinder. –
„In Zukunft wird es unglaublich viel Musik geben“, prophezeit Bernd Begemann und sagt: „Ich mache mir keine Gedanken über meinen Platz in der Geschichte.“ Das muss er auch nicht, denn den hat er schon längst. Wenn auch nur bei den Wenigen, die ihn verstanden haben.

08 Mai 2012

"Für mich gibt es nur ein Leben im Theater." – Isabella Vértes-Schütter im Interview.

Ende Februar diesen Jahres treffe ich Isabella Vértes-Schütter in der Intendanz des Ernst-Deutsch-Theaters. Das Gespräch bei Kaffee und Keksen über Theater, Aberglauben und Dramaturgie ist so interessant, dass ich es nicht nur in gekürzter Form in der Festivalzeitung "SPOT" (Schülertheaterfestival "theater macht schule" in Hamburg) abdrucken möchte, sondern auch hier.



Tobias Lentzler: Das EDT hat ja eine eigene Jugendsparte mit verschiedenen Jugendtheatergruppen. Worauf legen Sie dort wert? Ist das schon eine Art Talentschmiede oder geht es hierbei auch darum Jugendlichen die Freude am Theater zu vermitteln?

Isabella Vértes-Schütter: Als ich 1995 Intendantin des EDT wurde, haben wir begonnen darüber nachzudenken, was wir Jugendlichen anbieten können. Zunächst haben wir Produktionen für Jugendliche erarbeitet, sind später auch in die Schulen gegangen und haben dort Klassenzimmer-Stücke gezeigt. In der Auswertung dieser Projekte haben wir dann gemerkt, dass diese Angebote gar nicht das Wesentliche sind: Wir wollten eigentlich Jugendlichen den Theaterraum anbieten, der dann als Ort zum Ausprobieren eigener kreativer Möglichkeiten hätte genutzt werden können. Aus dieser Idee hat sich unsere Jugendsparte und 2003 das „plattform“-Jugend-Festival entwickelt. Dieses Festival ist heute die zentrale Jugendarbeit, die wir anbieten.

Tobias Lentzler: Sie haben eben bereits gesagt, dass es Ihnen wichtig ist Jugendlichen das Theater als Entfaltungsraum zu geben. Wie wichtig ist Theater 2012 denn generell?

Isabella Vértes-Schütter: Ich glaube die Situation von Theater hat sich in Metropolen schon verändert. Früher war das Theater das Forum in dem alle gesellschaftlichen Themen diskutiert wurden. Heute kann es das immer noch sein, doch das  Theater ist nicht mehr so selbstverständlich im Zentrum der Gesellschaft, wo es früher angesiedelt war. Ein Theater muss heute anders auf sich aufmerksam machen, aber nach wie vor ist es ein Ort an dem man die Gesellschaft in besonderer Weise spiegeln und in Frage stellen kann. Man kann Gegenmodelle entwickeln und es ist ein ganz wesentlicher Spielraum für unsere Gesellschaft. Diese ist heute ja sehr auf das Funktionieren in bestimmten Zusammenhängen ausgerichtet! Es ist ein wichtiger und wertvoller Ort. Gerade für junge Menschen. Denn dort können sie ihre Fragen stellen und wir können uns diese Fragen stellen lassen.

Tobias Lentzler: Das heißt also, dass das Konzipieren von Geschichten wie sie das Theater schreibt eine andere Sicht auf unsere Gesellschaft vermittelt. „Geschichten bauen – Dramaturgie“ ist ja auch das Thema des diesjährigen tms-Festivals. Was verbinden Sie persönlich denn mit dem so genannten roten Faden in einem Stück?

Isabella Vértes-Schütter: Mir ist es auch wichtig im Theater Geschichten zu erzählen. Das kann aber durch unterschiedliche Arten von Dramaturgie geschehen. Es kann sein, dass man einfach chronologisch eine Geschichte erzählt, es kann aber auch sein, dass man durch unterschiedliche Zeiten und Welten springt. Unsere Zeit ist in diesem Punkt ja auch sehr viel assoziativer. Wir leben mit ganz vielen Bildern und wir erleben oft, dass vor allem bei einem jüngeren Publikum der narrative „rote Faden“ an Bedeutung verliert. Manchmal sind da dann andere Assoziationsfelder viel wichtiger.

Tobias Lentzler: Zum Beispiel?

Isabella Vértes-Schütter: Zum Beispiel Bildwelten und Zitate an die man anknüpft. Auch Erlebnis- und Gefühlswelten, die uns auf unterschiedlichen Sinnesebenen erreichen sind wichtiger.

Tobias Lentzler: Fällt Ihnen ein Stück ein, dass diese Kriterien am besten umsetzt oder hängt das immer mit den Schauspielern, der Regie, den Masken- und Kostümbildnern zusammen?  

Isabella Vértes-Schütter: Manchmal ist die Grundlage kein fertiges Stück. Manchmal nimmt man bloß eine Stoffentwicklung vor oder ein Thema, welches man auf eine bestimmte Weise erzählen möchte. Die eine Frage ist: „Was wählt ein Autor?“ für eine Erzählweise? Und die andere Frage ist: „Welche Erzählweise wählen wir? Gibt es da wohlmöglich Widersprüche? Wollen wir die Geschichte vielleicht anders erzählen?“- Die Antworten auf solche Fragen sind im Theater immer Entscheidungen an denen ganz viele Menschen beteiligt sind. Man muss nur dazu kommen, dass es eine gemeinsame Idee gibt und alle an einer gemeinsamen Sache arbeiten. Dazu gehört natürlich ein Dramaturg, ein Autor, wenn er noch lebt, das Regieteam, die Bühnen- und Kostümbildner und alle Menschen, die diesem Gewerke zuarbeiten. Im Grunde genommen ist das ein riesiger Kommunikationsprozess. – Das macht Theater ebenfalls besonders: Unglaublich viele Menschen sind an dem Ergebnis – dem Stück – beteiligt. – Das Wichtige ist das Vertrauen in den Prozess, weil Theater etwas sehr Prozesshaftes ist. Irgendwann gibt es ein Ergebnis, welches man sich anschauen kann, doch auch das ist ja immer wieder unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt. Sei es die Interaktion mit dem Publikum oder die Veränderung eines Stückes nach einer Aufführung. Wir leben ja in einer sehr ergebnisorientierten Gesellschaft. Oft kommt dabei die Wertschätzung von Prozessen viel zu kurz!

Tobias Lentzler: Heißt das, dass Theater eher prozessorientiert sein soll?

Isabella Vértes-Schütter: Ich finde, dass ist das Spannende am Theater! Wenn man es von der kommerziellen Seite betrachtet, ist vermutlich das Ergebnis wichtiger mit dem man Geld verdienen möchte, aber das Spannende am Theatermachen ist der Prozess, wie ich finde!

Tobias Lentzler: Ich habe mich ein bisschen in Ihre Vita eingelesen. Sie sind Intendantin, waren beziehungsweise sind Schauspielerin, sind Ärztin und Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete. Wo bleibt denn für Sie da noch Zeit sich privat mit Opern, Theaterstücken und Konzerten auseinanderzusetzen? Oder fasst Ihre Arbeit die Auseinandersetzung mit ein?

Isabella Vértes-Schütter: Die Trennung zwischen Arbeit  und Freizeit ist für mich etwas sehr Künstliches. Meine Arbeit ist wahrscheinlich etwas, was ich gerne tue. Ich gehe gerne ins Theater, ich gehe auch in viele Konzerte und Ausstellungen. Das was ich da erlebe, hat natürlich direkte Auswirkungen auf meine Arbeit am Theater. Ich bin wahrscheinlich einfach da unterwegs, wo mich etwas interessiert.

Tobias Lentzler: Sie haben es eingangs bereits erwähnt – Sie sind seit 1995 Intendantin des EDT. Wie viel Friedrich Schütter steckt denn heute noch in Ihrem Theater und was hat sich seitdem verändert?

Isabella Vértes-Schütter: Ich glaube es steckt ganz viel von dem Geist Friedrich Schütters in diesem Theater. Das hat damit zu tun, dass der Gründungsgedanke des Theaters ganz viel mit dem zu tun hatte, was wir heute mit unserer Jugendsparte machen. Es ist bloß eine andere Zeit gewesen! Es war die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wo alle kulturell ausgehungert waren. Friedrich Schütter und denen, die mit ihm gestartet sind, ging es darum, dem Nachwuchs eine Bühne zu geben und Stoffe auf die Bühne zu bringen, die lange verboten waren. Das war schon innovativ! Später ist das Haus mit ihm natürlich auch älter geworden. Es haben sich einige Sehgewohnheiten eingeschlichen. Manche Sachen sind, glaube ich, einfach nicht mehr in Frage gestellt worden. Was wir dann versucht haben, ist zu gucken wo unser Aufbruch ist. Es gibt da immer neue Ansätze. Die Jugendsparte war so ein Aufbruch. Jetzt versuchen wir gerade eine Kooperation mit einer freien Gruppe – auch ein neuer Aufbruch. Ich glaube man muss immer schauen, wo man neu aufbrechen kann und wo man sich mit Menschen verbindet, die tatsächlich etwas Neues versuchen wollen! In den Jugendklubs ist das zum Beispiel mit der Gruppe „Inperspekt“ gelungen, die wirklich eine neue Kunstform erforscht und kreiert hat. Das sind inzwischen ganz tolle Künstler, die hier am Haus arbeiten! – Vielleicht kommt irgendwann ein Zeitpunkt an dem man merkt, dass man keine neuen Antworten mehr findet. Dann müssen eben Jüngere ran! (lacht) Die Impulse, die wir auch von „tms“ mitbekommen sind wichtig! Es ist wichtig Jugendlichen Eingang in die Welt des Theaters zu gewähren.

Tobias Lentzler: Haben Sie spezielle Erwartungen mit denen Sie in das Festival gehen?

Isabella Vértes-Schütter: Neugier. – (überlegt) Sie hatten vorhin noch nach einer „Talentschmiede“ gefragt. Eigentlich ist unsere Jugendsparte so aufgebaut, dass wir versuchen für alle Jugendlichen zugänglich zu sein. Die Frage ist immer wer den Weg hierher findet! Ich glaube man muss einen bestimmten Weg hinter sich bringen, damit man überhaupt den Weg in eine Theatergruppe findet. – An den Schulen wo wir Jugendgroßprojekte anbieten, versuchen wir darauf zu achten, dass es an den ausgewählten Schulen nicht schon ein großes, kulturelles Angebot gibt. Wir möchten, dass auch Jugendliche, die noch nie im Theater waren Theater kennenlernen! – Auf der anderen Seite entwickelt sich in den Jugendklubs natürlich auch eine eigene Sprache. Ich denke die Gruppe „Inperspekt“ ist schon eine Talentschmiede. „Inperspekt“ ist unser Medienjugendclub. Die Meisten aus dieser Gruppe wollen gerne in diesem Bereich arbeiten. Es ist wirklich erstaunlich, was junge Menschen für eine Leistung erbringen! Das sind nicht immer die, die in der Schule besonders erfolgreich sind. Schule fördert viele Talente nicht ausreichend. Theater hat die Chance das Potenzial vieler Jugendlichen zu fördern.

Tobias Lentzler: Wie kann mich denn aber Theater faszinieren, wenn ich relativ offen bin, aber keinen Zugang zu diesem Medium habe? Das ist heute ja oft der Fall! Gibt es da einen Weg?

Isabella Vértes-Schütter: Ich würde mir wünschen, dass die Lehrpläne da anders aufgestellt wären. Die Klassen sollen ein Theater nicht besuchen, weil sie einen bestimmten Stoff im Deutschunterricht bearbeitet haben. Man müsste wie in England festlegen, wie oft jede Stufe in Theater, Konzerte oder Ausstellungen geht. Das ist hilfreich diese Orte kennenzulernen und zu begreifen, dass ich von diesen Orten etwas habe! – Viele Jugendliche haben hier eine große Schwelle. Ich glaube der beste Weg ist es selber gemacht zu haben! Deswegen ist tms toll! Wenn man selber auf einer Bühne gestanden hat, hat man eine ganz andere Möglichkeit das Gesehene zu reflektieren.


Tobias Lentzler: Ich habe mir mal wahllos drei Aussagen herausgesucht, die alle etwas mit Theater zu tun haben. Vielleicht sagen Sie einmal mit einer kurzen Begründung, ob die zutreffen oder nicht.         

1.) "Theaterspielen macht abergläubisch.“

Isabella Vértes-Schütter: (lacht) Theaterspielen nicht. Aber es gibt in vielen Theatern einen bestimmten Aberglauben. Dass man montags nicht mit dem Proben anfangen sollte, dass man auf der Bühne nicht essen sollte, dass man nicht pfeift im Theater. Da gibt es eine ganze Menge an Überlieferungen und ich würde das auch nie im Theater tun!

2.) „Es gibt ein Leben nach dem Theater.“

Isabella Vértes-Schütter: Für mich gibt es nur ein Leben im Theater. (lacht) Als Schauspielern betrachtet würde ich aber sagen, dass man in eine Figur einsteigen – und auch wieder aus ihr aussteigen kann. Das gehört zur Profession des Schauspielers. Alles andere ist weder für die schauspielerische Leistung, noch für die eigene Seele gut.

3.) Tankred Dorst hat einmal gesagt: „Theater wird meistens gar nicht so sehr für das Publikum gemacht, sondern für die reisenden Kritiker.“

Isabella Vértes-Schütter: Hm. Das ist vielleicht ein Auswuchs des Subventionstheaters. Das kann schon sein. Mich bewegt das allerdings nicht so. Ich glaube, man muss Theater aus einer inneren Notwendigkeit heraus machen. Wenn man keine Geschichte zu erzählen hat, dann sollte man auch keine erzählen! Man muss erzählen wollen. Es gibt auch Geschichten bei denen wir sagen, dass wir sie machen müssen, obwohl sie den Leuten vielleicht nicht gefallen! Es ist aber mindestens so schädlich Theater für reisende Kritiker zu machen, wie Zuschauern bei der Stückwahl nach dem Munde zu reden! Es ist unsinnig Theater am Publikum vorbeizumachen. Man braucht die Interaktion mit dem Publikum. Geschichten erzählen und sie niemandem erzählen zu wollen, ist ja auch absurd! In erster Linie muss es aber eine künstlerische Notwendigkeit geben etwas auf die Bühne zu bringen. Wenn es beliebig ist, was auf der Bühne gespielt wird, dann brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass es niemanden interessiert. Daher muss die Kraft kommen!

Tobias Lentzler: Trotzdem sieht man sich von Kritikern beeinflusst, nicht wahr?

Isabella Vértes-Schütter: Ich glaube, dass es zu dem Theater gehört sich auszusetzen. Man setzt sich dem Publikum und der Kritik aus! Es gehört auch zur Professionalität dazu dass man lernt damit umzugehen. Ohne Verletzungen geht das nicht.

Tobias Lentzler: Um noch einmal einen Bogen zu der Prozesshaftigkeit von Theater von der Sie vorhin sprachen, zu spannen: Heißt das, dass ein Stück noch nicht abgeschlossen ist, wenn es auf die Bühne gelangt? Es gibt danach ja Kritiken und Publikumsreaktionen.

Isabella Vértes-Schütter: Eigentlich ist es nie abgeschlossen. Es gibt Theaterformen, die sehr festgelegt sind – zum Beispiel Musicals, aber so wie wir arbeiten, ist das nie zu Ende! Bei uns ist eine Premiere sicherlich eine andere Vorstellung als die Letzte. Wenn es einen guten Prozess gibt, dann muss das so sein!

Tobias Lentzler: Letzte Frage: Was ist Ihre erste Erinnerung ans Theater?

Isabella Vértes-Schütter: Mit drei Jahren habe ich im Zuschauerraum der Staatsoper gesessen und meine Mutter, Helga Pilarczyck, hat gesungen und ein Bühnenkind auf dem Arm gehabt und ich dachte bloß: „Da möchte ich hin!“ (lacht)

Tobias Lentzler: Es ist Ihnen offensichtlich gelungen! Vielen Dank für das Gespräch!