01 September 2013

Rezension: "Sequel To The Prequal" von Babyshambles. – Der kindliche Dandy wird erwachsen.

Das ursprünglich für den 2. September angekündigte Album "Sequel to the Prequal" von den Babyshambles um Frontmann Pete Doherty, ist bereits seit dem 30. August in Deutschland erhältlich. Schon die vorab veröffentlichten Songs "Nothing Comes To Nothing" und "Farmer's Daughter" sowie "Dr. No" ließen auf ein gutes bis sehr gutes Album hoffen. Dieser Eindruck hat sich nun bestätigt. Obgleich Doherty und seine Babyshambles inzwischen sehr clean (zumindest im Sinne der Soundqualität) klingen und der Indie-Rock nun endgültig dem Indie-Pop gewichen ist, wirkt das Album nicht im mindesten wie ein Spagat zu Dohertys vorigen Musikprojekten.


Pete Doherty und die Babyshambles sind zurück! Endlich, möchte man sagen. Nach dem Album "Shotter's Nation" von 2007 haben die Babyshambles in den Folgejahren kaum mehr von sich reden machen. Nach "Grace/Wastelands", Dohertys gelungenem Solo-Album, wurde es für seine Verhältnisse recht still um ihn. Die Geschichte ist inzwischen oft erzählt: Doherty und die Libertines feierten 2010 eine hochbezahlte Reunion und schürten die Hoffnungen auf ein neues Album und einen Fortbestand der Libertines gewaltig. Doch nach den Auftritten in Leeds/Redding war erneut Schluss. Es kam einfach nichts mehr. Zwar äußerten sich Doherty und sein kongenialer Partner Carl Barat in den letzten Jahren immer wieder positiv über ein mögliches Comeback der Libertines, doch bis heute bleibt es ungewiss wann und ob die Libertines je wieder einen gemeinsamen Song aufnehmen. (Anmerkung September 2014: Inzwischen haben die Libertines ihr Bühnen-Comeback gegeben und arbeiten, wenn man Doherty und Barat Glauben schenken mag, an einem neuen Album, welches 2015 erscheinen soll.) -
Die Babyshambles derweil standen mehrfach kurz vor dem Aus - zumindest, wenn man der Presse glauben schenken mag. Als Adam Ficek, der hochtalentierte Schlagzeuger 2010 aus der Band austrat, wurde einmal mehr über das Ende der 2003 als lose Kombo gebildete Band spekuliert. Doch Danny Goffey ersetzte Ficek und die Fangemeinde Dohertys hoffte weiter auf ein neues Album. Der Ex-Libertine saß wegen Kokain-Besitzes im Knast, klaute in Regensburg mit August Diehl eine Gitarre, musste den Tod seiner Freundin Amy Winehouse verkraften, zog nach Paris und drehte einen erfolglosen Kostümfilm und tourte immer wieder solo landauf, landab. Alles in allem waren die Jahre 2009 bis 2013 aufregende Jahre für den "kindlichen, weltfremden Dandy" wie ihn laut.de einmal so treffend beschrieb.
Als das Album "Sequel To The Prequal" angekündigt wurde, wurden die Fans schnell in ihrer Anfangseuphorie gebremst. War nicht schon im Jahr 2010 ein Album angekündigt worden, welches dann einfach nicht erschien? Ohne Begründung? - Man machte sich nicht allzu große Hoffnungen und wurde dann um so freudiger überrascht als das Album tatsächlich aufgenommen und promotet wurde. Der vorab veröffentlichte Song Nothing Comes To Nothing war klug gewählt. Er deutete an in welche Richtung Doherty und seine Babyshambles sich entwickelt hatten. Sie waren cleaner, was den Sound anbetraf und poppiger geworden. Die Songwriter-Qualitäten jedoch waren Peter Doherty keinesfalls abhanden gekommen.

Jeder der zwölf neuen Songs - von dem an die frühen Babyshambles-Tage erinnernden Fireman bishin zu dem düsteren und wahrhaft brillanten Minefield  - besitzen eine eigene Qualität. Sie entwickeln im Hörer unterschiedliche Szenerien und Bilder. In sich sind sie kleine, abgeschlossene Miniaturen, die durch die großartige Produzentenarbeit von Blur-Produzent Stephen Street noch einmal an Qualität gewinnen. - Besonders hervorzuheben sind Farmer's Daughter, Dr.No und Picture Me in a Hospital. Diese drei Songs tragen all die Stärken der neuen Doherty Songs in sich und deuten doch allesamt unterschiedliche Einflüsse und Stile der neuen Babyshambles an. Während Farmer's Daughter eine angenehme Midtempo-Nummer mit einem überragend singenden (!) Pete Doherty und einem eingängigen Refrain ist, deutet Dr.No einmal mehr die Verbundenheit der Babyshambles zu Reggae an. Spannend ist die Schreibmaschinen-Perkussion, die Doherty am Ende des Songs einbaut. - Picture Me in a Hospital könnte auch ein Libertines-Song sein, der irgendwann verloren ging. So einsam und schön, verloren und gleichzeitig gefasst, kommt er daher.

Alles in allem lässt sich über dieses Album kaum mehr sagen als: Hut ab für dieses Comeback! Neben dem überragenden Arctic Monkeys Album "AM" zählt Sequel To The Prequel mit Sicherheit zu den besten Alben des Jahres.

Wertung: 8,5 von 10

30 August 2013

Notizen aus Bayreuth.

Auch wenn die Bayreuther-Festspiele am 28.08. mit der Aufführung des "Tannhäuser" zu Ende gingen, lohnt es sich noch einmal einen Blick auf die Wagner-Stadt und die letzten Tage zu werfen. Ein paar Blicke auf eine Stadt am Ende des Ausnahmezustands. 

Universitäts- und Festspielstadt, so steht es unter dem Bahnhofsschild von Bayreuth. Jeder, der dort mit dem Regionalzug aus Nürnberg oder entlegenen Orten entlang der Pegnitz einfährt, sieht diese Schilder. Prinzipiell sind sie eine überflüssige Information, denn wer in der knapp 71.500 Einwohner großen Stadt ankommt, ist entweder Student oder Festspiel-Besucher. Letztere bevölkern die Stadt zwischen Ende Juli und Ende August, ständig zwischen einem der vielen überteuerten Hotelzimmer und dem Grünen Hügel pendelnd und gehören zu einer Spezies, die sich "Wagnerianer" nennt. Sie alle pilgern, der jahrelangen Wartezeiten und der sündhaft teuren Karten zum Trotz jährlich zum Festspielhaus in Bayreuth und lauschen dort der Musik eines Mannes: Richard Wagner. Wagner gilt, wie allgemein bekannt ist, als einer der großen deutschen Komponisten der ausgehenden Romantik. Als Musikerneuerer gar. Seine Gesinnung gilt als umstritten, die Nazis vereinnahmten die Bayreuther Festspiele und seine imposante Musik für ihre Zwecke. Viele, die sich mit klassischer Musik auszukennen glauben behaupten, man könne Wagner entweder hassen oder lieben. Jedenfalls provoziert kaum ein Komponist eine solche Lagerbildung wie der 1813 in Leipzig geborene Komponist. Seine Werke, vor allem die Tetralogie "Der Ring des Nibelungen" sind oftmals von Heldenmut und Stärke, germanischen Gottheiten und Deutschtum geprägt.
Die Libretti, die Wagner selbst schrieb und mit einer Vielzahl an Regieanweisungen versah, zeugen von einem die Sprachmacht liebenden, oftmals über-pathetisch dichtenden Autoren. Seine Musik ist kraftvoll und scheppert einem in manchen Opern geradezu um die Ohren. Viele Posaunen, Waldhörner, Trompeten und Schlaginstrumente untermauern Wagners Dichtungen. Rohe Kraft und Gezähmtheit, Tempo und Entschleunigung sowie Sanftmut und Gewalt wechseln in Wagners Musik beständig. - Vielleicht macht dieses Aufzeigen von Differenzen, die deutliche Provokation durch Überhöhung, Pathos und Heldensagen Wagner zu einem solch unterschiedlich wahrgenommenen Komponisten. 

Wer Wagner nicht liebt kommt nach Bayreuth, um sich zu zeigen, schauzulaufen, die Prominenz bei ihrem alljährlichen Stelldichein zu beobachten. Oder er kommt, um die vielen namhaften Regisseure von Wagners Enkel Wieland bishin zu Christoph Schlingensief und Frank Castorf niederzubuhen oder ob ihrer Inszenierungen und Deutungen von Wagners Stoffen in Jubelstürme zu verfallen. - Bayreuth hat - wie die Salzburger Festspiele oder andere klassische Musik-Veranstaltungen, aber auch wie das Hurricane-Festival, das Dockville, Glastonbury oder Leeds and Reading - seine eigenen Gesetze. Diesen Gesetzen hat sich nicht bloß jeder Festspiel-Besucher sondern auch die oberfränkische Stadt unterzuordnen. - Die Straßen Bayreuths wirken während der Festspiele blankpoliert und unwirklich reinlich. Die Ladenbesitzer legen ihr bestes Hochdeutsch an den Tag, damit es bei den Festspiel-Gästen nicht zu Kommunikationsstörungen kommt. 
Auch Restaurants erhöhen ihre Preise, schaffen mehr Stühle herbei und locken mit Freigetränken oder anderen "Specials", die sie von den vielen anderen Gastwirtschaften unterscheiden. Überhaupt hat man das Gefühl, dass während der Festspiele überhaupt bloß drei Berufe in und um Bayreuth existieren. Hotelangestellte, Kellner und Taxifahrer. Letztere können sich an den Festspielbesuchern eine goldene Nase verdienen, sind sie bloß zuvorkommend und höflich genug. Alles in Allem wirkt Bayreuth während der Festspiele wie eine eingeschworene Gemeinschaft, welche die Wünsche der Festspiel-Besucher exakt kennt und so zuvorkommend wie es bei einer jährlichen Routine eben geht, agieren. Der große Pomp und Zirkus, das Sehen und Gesehen werden, findet auf dem grünen Hügel und unter den Wagnerianern statt.
Viele Bayreuther selbst sind wohl stolz auf ihre Attraktion, doch eine Karte für die Festspiele hatten bisher die wenigsten. Das zumindest ist der flüchtige Eindruck, der entsteht, wenn man nach Bayreuth pilgert.

Der "Tannhäuser" im Übrigen, war eine interessante Melange aus Gedanken von und über Wagner, Schiller, Nietzsche, Rammstein und  Žižek. Der Dramaturg Carl Hegemann und der Regisseur Sebastian Baumgarten versuchten den Sängerstreit auf der Wartburg und die Liebesirrungen um Elisabeth und Venus, in welchen sich der Tannhäuser verfängt, als Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine, Kunst und Werk sowie Lust und platonischer Liebe zu inszenieren.
Ein wenig, so hat man das Gefühl, versuchen Baumgarten und Hegemann zu zeigen wofür man Wagner und Bayreuth lieben oder Hassen kann: Die Differenzen, die bei einer Konfrontation mit einem der beiden Elemente zwangsläufig auftreten. Phasenweise gelingt ihnen das brillant, in vielen Passagen jedoch verheddert man sich in zu vielen Reminiszenzen an andere Denker und bleibt seinem Konzept nicht treu. Die wenigen Buh-Rufe bei der letzten Aufführung galten allerdings eher dem eigenen Gewissen der Buh-Rufer, denn der Inszenierung oder den Gesangsleistungen der Darsteller. Am Ende gab es viel artigen, teils sogar frenetischen Applaus. 

10 Juni 2013

Rezension: "BE" von Beady Eye. – Das Selbstzitat.

Zwanzig Jahre nach Oasis herausragendem Debütalbum "Definitely Maybe" veröffentlicht Liam Gallagher "BE". Das zweite Album mit seiner aktuellen Band "Beady Eye". Getragen wird es von dem unbedingten Willen Liams etwas neues zu schaffen. Dennoch: Am stärksten ist das Album in den Momenten wo sich Beady Eye am Songwriting-Stil von Noel Gallagher orientiert. 

Die Rezensionen zum Debütalbum "Different Gear, Still Speeding" von "Beady Eye" waren durchwachsen. Das wird sich bei ihrem zweiten, am 10.Juni 2013 erschienen Album "BE"kaum ändern. Dafür enthält der ambitionierte Befreiungsschlag von Liam Gallagher, Andy Bell, Gem Archer, Chris Sharrock und Jay Mehler zu viele Elemente des altbewährten Oasis-Songwritings. Wie sollte es auch anders sein? Eine Band, die fast ausschließlich aus ehemaligen Mitgliedern der vielleicht wichtigsten Band der letzten zwei Jahrzehnte besteht, kann sich nicht innerhalb von zwei Alben radikal wandeln. Es wäre weder natürlich noch sinnvoll vergessen zu wollen, dass Noel Gallagher, der bei Oasis hauptverantwortlich die Songs schrieb, nicht Teil der Band ist. Immer wieder betont Liam, dass er gerne ein weiteres Oasis-Album schreiben würde, doch dafür scheint Noel zurzeit nicht zur Verfügung zu stehen. Zu viel Bitterkeit liegt in den ewigen Querelen der beiden Radaubrüder. 
Allein die Tatsache, dass Liam viel über eine Reunion von Oasis spricht und Rezensenten selbige Nachricht bereitwillig in ihren Kritiken aufnehmen zeigt, dass es schwer ist "BE" mit einem neutralen Blick zu betrachten. Erinnert man sich an die ersten Liam Gallagher Songs auf Oasis-Platten ("Little James" auf dem 2000 erschienenen Album "Standing On The Shoulders Of Giants"), erwartet man keine meisterlichen Songs. Die meisten Liam Gallagher Songs, die in der Zeit von Oasis entstanden, waren uninspirierte, vor sich hinplätschernde Balladen oder Midtempo-Nummern, die lange nicht an die Songschreiber-Qualitäten von Noel heranreichten. Doch "Millionaire", "Four Letter Word" und vor allem "The Roller" bewiesen, dass Liam durchaus in der Lage war gute Songs zu schreiben. 
Das zweite "Beady Eye" Album enthält vier Songs, die alleine eine überragende Platte ergeben hätten. Leider besteht "BE" aber aus wesentlich mehr Titeln. Die meisten von ihnen ("Iz Rite", "Shine A Light" oder "The World's Not Set in Stone") tun nicht weh. Sie plätschern ein wenig vor sich hin, erinnern ein wenig an die ganzen frühen Titel der Beatles ("Love Me Do" oder "Day Tripper"), erfinden allerdings keinesfalls "Beady Eye" oder gar die Musik neu. "Beady Eye" neu zu erfinden war allerdings ein ausgegebenes Ziel von Liams Kombo. 
Problematisch ist das tiefe Tal der Qualitätsunterschiede, die dieses Album durchziehen. Die Bergspitzen (unter anderem der fabelhafte Eröffnungssong "Flick Of The Finger" oder die Gitarren-Ballade "Ballroom Figured") zeigen, dass "Beady Eye" ihren Stil am ehesten finden, wenn sie sich direkt neben ihrer selbstgesteckten Messlatte der Oasis-Songs bewegen. "Flick Of The Finger" besitzt eine ähnlich rohe Kraft wie "Bring It On Down", auch wenn die Songs in ihrer Vertonung und Abmischung unterschiedlicher nicht sein könnten. "Flick Of The Finger" wartet mit imposanten Blechbläsern und einem so stimmgewaltigen wie eigensinnigen Liam Gallagher auf. Es ist eine Glaubensfrage, ob Liam Gallagher singen kann oder nicht. Selbst Rezensenten derselben Zeitung sind da niemals einer Meinung. 
"Ballroom Figured" ist eine schlichte Gitarrenballade mit einer sehr schönen Bridge. Das Lied tänzelt immer wieder vor sich hin und kann sich dennoch oder vielleicht gerade deshalb inmitten dieses ambitionierten Albums behaupten. - Was geschieht, wenn die Ambitionen höher sind als die Qualität der Songs ist eindrucksvoll bei "Second Bite Of The Apple" zu hören. Der Song ist jammervoll! Liam singt mit einer merkwürdigen Variante seiner Stimme einen Text, den ein Schuljunge, der gerade das A-B-Reimschema gelernt hat, hätte texten können. Die überlauten Bläser, der mit einem merkwürdigen Effekt belegte Bass und die Percussions, die klingen als hätte Liam zu Hause ein paar Töpfe aufgestellt und darauf herumgeschlagen, machen den Song zu einem Desaster. Der Song ist ein fehlgeschlagenes Experiment, kreiert ärgerlicherweise allerdings einen sehr lästigen Ohrwurm.
Die übrigen Songs haben ihre Stärken und Schwächen, beweisen allerdings, dass diese Band sich im Aufbruch befindet. Manchmal zitieren sie berühmte Bands, als hätten sie Angst sonst nicht bestehen zu können. Doch eigentlich zitieren zumeist sich selbst. Allerdings nicht als "Beady Eye" sondern als "Oasis", welches ohne Noel Gallagher seinen Kompass für die Weltklasse verloren hat. Die Band ist ein Selbstzitat ohne den letzten Punch im Arrangieren. Ein Großteil der Songs hat durchaus Potenzial. 

Es lohnt sich das Album in voller Länge anzuhören, wenn man an der Entwicklung von Liam als Songschreiber interessiert ist oder es beiläufig im Hintergrund läuft. Zwanzig Jahre nach "Definitely Maybe" wird dem Hörer allerdings einmal mehr bewusst, was für ein schmerzlicher Verlust "Oasis" für die Musikwelt war.


Wertung: 5,5 von 10

03 Juni 2013

Klagen, Wahn und Witz. – Eine Rezension zu dem Theaterstück. "Die Brüder Karamasow"


Dostojewskijs großer Roman "Die Brüder Karamasow" hat nun eine Bühnenfassung von Luk Perceval am Hamburger Thalia-Theater erhalten, die in erschreckender Weise deutlich macht wie wichtig der Roman für die Weltliteratur und jeden einzelnen Menschen mit. Vielleicht ist Perceval eine der wichtigsten Inszenierungen der nächsten Jahre gelungen. Auf jeden Fall zeigt sie, warum das Theater noch lange nicht redundant ist!

Über einen solch emotionalen Theaterabend wie den 01. Juni 2013 am Thalia Theater in Hamburg zu schreiben, ist in seiner Ganzheit fast unmöglich. Immer wieder sinken die Zuschauer deutlich vernehmbar seufzend in ihre Sessel zurück, verknoten ihre Hände ineinander oder verlassen gar den Theatersaal vor der Pause. Auch der sonst so übliche Parfumduft, der normalerweise in den Theatern hängt, scheint heute Schweiß gewichen zu sein. Abende wie dieser zeigen warum Theater keine redundante, verspießerte Kultureinrichtung ohne Zukunft ist, sondern ein Hort der Begeisterung und des Nachdenkens - ein magischer Bann.
Der großartige und zurecht oftmals hoch gelobte belgische Regisseur Luk Perceval, verarbeitet mit einem kongenialen Ensemble den letzten Roman von Fjodor M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, der 1880 erschien und als eines der wichtigsten Werke der Literaturgeschichte angesehen wird. Der Roman sowie die stellenweise vom originalen Erzählfluss Dostojewskijs abweichende Theaterfassung, erzählt die Geschichte der drei Brüder Dimitrij Karamasow (in vollendeter Form gespielt von Bernd Grawert), Iwan (mutig die Wage zwischen Wahnsinn und Witz, Intellektualität und Verbortheit haltend, Jens Harzer) und Aljoscha (alle Fäden in der Hand haltend, auseinanderdröselnd und neu zusammenführend, Alexander Simon), die allesamt von ihrem gestrengen und geizigen, lieblosen und bloß seinen Lüsten nacheifernden Vater Fjodor (glänzend und nicht mehr zu überbietend gespielt vom Thalia-Theater-Gaststar Burghart Klaußner) unterdrückt werden bis dieser eines Tages ermordet wird. Dostojewskij baut im Vordergrund seiner Geschichte einen spannenden Kriminalfall auf, in der am Anfang ganz offensichtlich Dimitrij aufgrund seines Hasses und des offen verkündeten Wunsches seinen Vater zu töten, als Täter angesehen wird. Dass in Wahrheit Smerdjakow (Rafael Stachowiak), der als "Bastardssohn" bezeichnete Diener von Fjodor den Mord an ihm begangen hat, kümmert weder den Richter noch den Leser beziehungsweise das Publikum besonders. Dostojewskij lässt seine Figuren über Liebe und Hass, den Glauben an Gott, die Welt, das Gute oder Böse, Selbstmord und Lust, Leidenschaft, Rachsucht, Vergeltung und das Morden nachdenken. Auch Eifersucht, die sich sowohl in Dimitrijs Verlobter Katerina Iwanowna (mit Anmut und Bedacht gespielt von Alicia Aumüller) als auch zwischen Vater Fjodor und dem Erstgeborenen Dimitrij, die um dieselbe Dame - Gruschenka (verführerisch-lassziv mit einem Hang fürs Tragische dargeboten von Patrycia Ziolkowska) - buhlen, zeigt, wird thematisiert.
Perceval und sein wirklich bis in die Nebenrollen exquisit besetztes Ensemble schaffen es, eine so geladene, intensive und befremdlich-drückende Atmosphäre zu schaffen, dass jeder Zuschauer nach den vier Stunden, die das Stück dauert, erst einmal laut durchatmen muss. Was hatte man da gerade gesehen? Ohne Zweifel ein herausragendes Stück Theatergeschichte!? Aber was hieß das für den jeweils einzelnen? - Die meisterliche Annährung an Dostojewskijs geschickt konstruierte Figuren und deren Gedankenwelt, stieß in jedem ein Tor in die oftmals verdrängten, selben Gedanken, die die Charaktere der Geschichte quälen, weit auf. Das machte den Abend für viele Zuschauer so unbequem und herausfordernd.
Neben der wirklich brillanten Geschichte, die Perceval mit Susanne Meister kongenial adaptiert hat, war auch das Bühnenbild samt der für das Stück wichtigen Klanginstallation von Annette Kurz eine Säule des Erfolgs dieses Stückes. Unterschiedlich dicke und hohle Metallrohre, hingen von der Decke auf ein sonst karges Bühnenbild herab. Sie waren beweglich und gaben je nach Dicke und Länge unterschiedlich hohe Töne von sich, die durchdringend wie das Läuten einer Kirchturmuhr waren. Ansonsten standen auf dem mit kyrillischen Buchstaben beschriebenen Boden Schemel herum. Auch Bücher lagen wild verteilt im Raum. Das Zentrum der Bühne bildete neben der Klanginstallation jedoch eine Kirchenglocke, die nicht ganz in der Mitte der Bühne stand.
Gedanken über den Glauben an Gott, die Existenz desselben oder Fragen nach dem Sinn des Lebens, der "Kollektivschuld" oder das berühmte Gleichnis vom greisen Großinquisitor, der Jesus, der zurück auf die Erde kehrt einkerkern lässt, werden die Zuschauer eines perfekten Theaterabends noch lange zum Nachdenken anregen. - Nach der Vorstellung konnte man unter vielen Zuschauern Getuschel hören. Viele zeigten sich beeindruckt und begeistert von dem Stück. Nur eine Stimme sagte deutlich vernehmbar: "Dostojewskijs Poesie verträgt keinen Lärm". Damit spielte der Zuschauer auf den oftmals laut brüllenden Dimitrij an. - Man mag diese Kritik ernst nehmen oder nicht - ein schöner Satz bleibt dieser allemal.

Zuerst veröffentlicht auf: livekritik.de

12 Mai 2013

Vom Aufstieg und Fall zweier Künstlerseelen. – Rezension zu: "Geliebter Lügner".

George Bernard Shaw und Stella Patrick Campbell schrieben über vierzig Jahre Briefe aneinander. Sie formten ihre Gefühle mit Worten, begeisterten und verfluchten einander und vergaßen niemals, dass diese Briefe eines Tages an die Öffentlichkeit gelangen würden. Am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg ist noch bis zum 18.05. die herausragende Brief-Adaption "Geliebter Lügner" von Jerome Kilty sehen.

Zugegebnermaßen - ganz taufrisch ist das Stück "Geliebter Lügner" von Jerome Kilty, der 1922 geboren wurde, nicht mehr. Seit mehr als fünf Jahrzehnten wird es die Bühnenwelt hinauf- und heruntergespielt, verliert jedoch nie an seiner Wortgewalt, seinem Witz und seiner Tragik. Dass liegt nicht nur daran, dass Kilty es versteht die Briefe von dem großen irischen Dramtiker George Bernard Shaw (am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg gespielt von Peter Franke) und der Ende des 19.Jahrhundert als große Schauspielerin gefeierten Stella Patrick Campbell (herausragend besetzt mit Thekla Carola Wied) klug auszuwählen und ihnen erklärende oder bonmonthaltige Dialoge beizufügen, sondern auch daran, dass Shaw und Campbells Briefe Meisterwerke sind. Ist Shaw oft der von seinem eigenen Ruhm besessene und zutiefst eitle Grantler mit Witz, schreibt Campbell oft das Innerste ihrer Künstlerseele an ihren Brieffreund.

Die Besonderheit der Beziehung zwischen Campbell und Shaw wird an diesem Abend im Ernst-Deutsch-Theater brillant herausgearbeitet. Thekla Carola Wied und Peter Franke sitzen zumeist an ihren Schreibtischen, die am linken beziehungsweise rechten Rand der Bühne stehen und lesen die Briefe aneinander laut vor. Dass dieses zunächst einfallslos wirkende Regiekonzept von Wolf-Dietrich Sprenger fabelhaft aufgeht, wird erst deutlich, wenn Franke oder Wied sich vor Empörung von ihren Schreibtischen erheben, einander am Theater treffen oder die Briefe mit aussagekräftigen Videoprojektionen unterlegt werden. Franke und Wied scheinen auf der Bühne um Jahrzehnte zu altern - so wie es Campbell und Shaw in ihrer über vierzigjährigen Brieffreundschaft taten. Shaw steigt zu Weltruhm auf, erhält im Jahr 1925 den Literaturnobelpreis und 1939, ein Jahr vor Stella Patrick Campbells Tod in Frankreich, einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch, während Campbell, einst gefeierte Schauspielerin und Broadway-Star unter ihrem Alter leidet und immer weniger von ihrem einstigen Ruhm leben kann. Oft wird sie krank und stirbt mehr oder weniger mittellos.

Shaws und Campbells Briefe machen diese Entwicklung nur unterschwellig deutlich. So klar und gewitzt, so harsch und bestechend die Schriftstücke formuliert sind, ist es für den Zuschauer ein Akt der geistigen Mitarbeit nachzuvollziehen in welchen Lebenssituationen sich die beiden Schöpfer dieser Briefe zum jeweiligen Zeitpunkt befanden. Kilty löst das in seinem Stück mit Jahreszahlen, die immer wieder beiläufig vorgetragen werden.

War Stella Patrick Campell für den älteren George Bernard Shaw am Anfang ein Vorbild und eine Muse (sie inspirierte ihn zu seinem weltweit bekannten Stück "Pygmalion" und war in einem post-viktorianisch verklemmten Großbritannien sein Objekt der Begierde), so wird Shaw über die Jahre immer mehr zu Campbells Vorbild. Sein Erfolg und seine Lebensfreude, seine Gedanken und sein Talent zum Schreiben begeistern sie. "Geliebter Lügner" und "Clown" nennt sie ihn in ihren Briefen, schwärmt und giftet ihn an, verflucht ihn, um ihn gleichzeitig wieder sehnsüchtig herbeizurufen.
In Kiltys Stück wird der Zuschauer Teil einer komplizierten und herzzereißenden Liebesgeschichte. Es sind Briefe wie sie nur die Leidenschaft und Getriebenheit zweier Künstlerseelen schreiben können. So sehr nehmen einen die Gedanken der beiden mit.

Dass das Ernst-Deutsch-Theater am 10.05. zwei Gebärdendolmetscherinnen engagierte und das Stück simultan übersetzen ließ, ist neben einem gelungenen Theaterabend eine weitere glückliche Erinnerung, die den Zuschauern, die daheim bestimmt nach Federkiel, Tinte und Papier suchen werden, im Gedächtnis bleibt.

Anmerkung: Dieser Text erschien erstmals am 10.05.2013 auf livekritik.de

11 März 2013

Til Schweiger, der Rabatzmacher. – Eine "Tatort"-Rezension.

12,5 Millionen Deutsche wollten Til Schweiger als Kommissar Nick Tschiller in seinem "Tatort"-Debüt "Willkommen in Hamburg" sehen. Das hat seit fast 20 Jahren kein Tatort mehr geschafft. Im Vorfeld jedoch gab es vor allem in den Feuilletons einen erheblichen Kleinkrieg um Til Schweiger als Tatort-Kommissar. Eine bessere PR hätte die ARD sich nicht wünschen können und auch Schweiger selbst profitiert davon. Seine Polarisation hat System. 

Dass Til Schweiger einer der erfolgreichsten deutschen Schauspieler im Kino und nun auch noch im Fernsehen ist, hat er mit seinem "Tatort"-Debüt "Willkommen in Hamburg", welches am 10.03.2013 in der ARD lief erneut eindrucksvoll unterstrichen. Dass er polarisiert auch. Zwölfeinhalb Millionen (!) Menschen schalteten ein als der neue Kommissar Nick Tschiller und sein Partner Yalcin Gümer (humorvoll und herausragend gespielt von Fahri Yardim) gegen eine Bande von Mädchenhändlern ermittelten. Besonders an diesem Tatort war in erster Linie nicht die Geschichte, die stellenweise an Logik zu wünschen übrig ließ, sondern vielmehr die im Vorfeld dieses "Tatorts" hitzig geführten Debatten um die Tradition des "Tatorts" und die Person Schweiger in den Feuilletons. Viele Kritiker störten sich an der Art wie Til Schweiger den "Tatort" und seine Figur interpretierte. Wenn es nach Schweiger ginge hätte aus Nick Tschiller ein Schimanski des 21.Jahrhunderts werden sollen. Referenzen an den großen Götz George gab es genug. War Schimanskis erstes Wort "Scheiße" so fluchte Schweiger leise "Fuck!". Schweiger ballerte wild um sich, Schimanski erschoss in seinem ersten "Tatort" unabsichtlich seine Freundin. Doch Til Schweiger ist nun einmal nicht Götz George und Nick Tschiller ist nicht Horst Schimanski. Gut so! Denn Schweiger hat mit der von ihm mitentwickelten Figur einen großen Sprung gewagt und eine neue Ära des "Tatorts" ausgelotet. Vorbei sind die Zeiten in denen Ernst Bienzle (Dietz-Werner Steck) gemütlich schwäbelnd von Tatort zu Tatort lief und ein bisschen Columbo-ähnlich die Fälle eher im Vorbeigehen löste. Vorbei auch die Zeiten in denen Tatorte dazu neigten gesellschaftlich umstrittene Themen auszuschlachten und diese mal mehr mal weniger schlecht in eine "glaubwürdige" Geschichte zu pressen. Til Schweiger macht Rabatz! Und zwar so richtig. Sein Kommissar ballert wild um sich, fühlt dabei keine Reue und ist nur sich selbst verpflichtet. Er hat ein eigenes Wertesystem und wird von vielen zu unrecht als Macho abgestempelt. Diese Einordnung "Macho", "nur sich selbst verpflichtet", "eigenes Wertesystem" hat man im Zusammenhang mit Schweiger schon oft gehört. Viele Kritiker glauben, dass Til Schweiger und seine Figuren ein und dieselbe Person sind, deckungsgleich beinahe. Deshalb sind nicht bloß sie Zielscheiben der Häme der Kritiker sondern auch Schweiger selbst. Seine Polarisation hat System. Seine Kritiker beschweren sich über seine Arroganz, viele Menschen hassen ihn angeblich. Aber dennoch gehen jedes Jahr mehrere Millionen Menschen in seine Kinofilme. "Schutzengel", "Keinohrhasen", "Barfuss". Die Liste seiner Filmerfolge ist lang. Warum also beschweren sich gestandene Filmkritiker über einen "Tatort". Weil es das Flaggschiff der ARD-Unterhaltung ist? Weil der Tatort "Kult" ist? - Wie Nick Tschiller trifft Schweiger hierbei ins Schwarze. Sein erster Tatort ist unterhaltsam. Ein Fernsehfilm in bester Popcorn-Manier, der schnell zum Kult werden wird. Denn einen nuschelnden Kommissar mit einer derben Hau-Drauf-Einstellung und einem amüsanten Partner, wird sich im kollektiven Tatort-Gedächtnis der Deutschen verankern. 

Ob man Til Schweiger mag oder nicht - ähnlich wie Matthias Schweighöfers Filme orientiert sich Schweiger an den Interessen und Vorlieben der Kinogänger und Fernsehzuschauer. Seine Filme werden niemals "Sunset Boulevard" werden, aber sie unterhalten uns. Das ist das System Schweiger. Unterhaltung statt Überforderung. 

21 Februar 2013

Rezension: Liebe, Tod und Vergänglichkeit. – "La Traviata" in Hamburg.

Giuseppe Verdis „La Traviata“ wird in einer Neuinszenierung von Johannes Erath an der Hamburgischen Staatsoper aufgeführt. Eine Rezension der B-Premiere erschien am 20. Februar 2013 zunächst auf livekritik.de und nun auf "kulturlog".

  

Dass Giuseppe Verdis 1853 uraufgeführte Oper La Traviata erst nach einer Überarbeitung des Libretto und der Partitur eine der erfolgreichsten Opern der Welt wurde, ist nicht das schlechteste Zeichen für die Neuinszenierung dieses Werkes an der Hamburgischen Staatsoper. - Der umtriebige Regisseur Johannes Erath und der aufstrebende und hochtalentierte Gastdirigent Patrick Lange machen sich mit ihrer Version der La Traviata daran, die nicht mehr zeitgemäße und mit zu viel Rouge und Plüsch inszenierte hamburgische Interpretation, zu entstauben. Ein Scheitern nehmen sie dabei wie selbstverständlich in Kauf. In den Feuilletons las man in den letzten Tagen teils miserable, teils wohlwollende bis gute Kritiken über die Neuinszenierung. Vorweg sei gesagt: Erath und Lange scheitern nicht an ihrem Vorhaben Verdis Werk zu modernisieren!

Der Regisseur Erath verlegt die Handlung aus dem Paris der 1850er Jahre gemeinsam mit seiner kongenialen Bühnenbildnerin Annette Kurz auf einen Rummelplatz mit vielen Autoskootern, die während des Stückes munter blitzen und blinken und von den Darstellern beliebig oft hin- und hergeschoben werden. Der Rummelplatz ist eine Art Symbol für die Veränderungen, welche die Hauptfigur Violetta Valéry (hinreißend und herausragend gespielt von Ailyn Pérez) - einst eine angesehene Kurtisane - durchlebt. Schwer krank ist sie und wird dann auch noch ganz ernsthaft von einem Manne namens Alfredo Germont (Stefan Pop) umworben. So vieles bewegt sich in ihrem Leben, lässt sie zweifeln und hoffen, lieben und leiden, schlussendlich sterben. Die Geschichte der Oper ist ja hinlänglich bekannt. Interessant ist, dass Johannes Erath keinesfalls den Versuch unternimmt eine andere Figur als Violetta oder Alfredo in den Vordergrund zu rücken beziehungsweise eine andere Figur umzudeuten. Nach wie vor bemitleiden wir Violetta um ihr Schicksal, bewundern und bedauern Alfredo und verachten zunächst und lieben zum Ende hin Alfredos Vater Girogio (brillant: George Petean). Erath versucht vielmehr Violettas Krankheit für ihr unstetes Leben, ihre Zweifel und ihre innige Liebe verantwortlich zu machen. Wie in einer Geisterbahn ziehen an ihr immer wieder weiße Schreckgestalten vorbei, die sich entweder als ihr nahestehende Personen oder völlig Fremde deuten lassen. Diese lassen sie wanken, aber bis zur fabelhaften Schlussszene nicht fallen. - Zwar hat Erath der Oper das eigentliche Vorspiel (Alfredo tritt an das Grab der Toten und hält sie in den Armen) aus A. Dumas Roman Die  Kameliendame von 1848 auf der Verdis Stück aufbaut, beigefügt, aber bemerkt der Zuschauer diese feine Dramaturgie erst zum Schluss. Der Tod und die Vergänglichkeit, beinahe wie auf einem Vanitas-Stillleben, sind in dieser Inszenierung allgegenwärtig und dennoch bis zum Schluss nicht greifbar. 
An der Rückwand der Bühne ist ein Tor angebracht, welches sich mehrfach öffnet und schließt und die Hamburger Choristen entweder freigibt oder verschluckt. Auch wird der zweite Akt von braunen, durch die Luft wehenden, also vergangenen, Blättern eingeleitet. Bis in die letzte Szene überzeugt das Bühnenbild. - Auch die Leistung der Musiker der Staatsoper Hamburg, brillant durch den Abend geführt vom unaufdringlichen, aber ständig präsenten, Patrick Lange, lässt keine große Kritik zu. Bloß stellenweise wirken die Symphoniker etwas gedämpft, in anderen Passagen etwas zu schnell. - Es gehört viel Mut dazu einen Klassiker vielschichtig und neu zu inszenieren. Doch es gehört noch viel mehr Talent und Können dazu daran nicht zu scheitern, sondern die Staatsoper um eine ihrer wichtigeren und im nationalen Vergleich starken Inszenierungen zu bereichern. La Traviata als ein bewegtes Vanitas-Stillleben und gleichzeitig vergänglichen Rummelplatz zu deuten, ist eine gelungene und kluge Abwechslung in der langen Inszenierungsgeschichte dieses Opernklassikers mit Ohrwurmcharakter. Die Sänger bekamen vom Publikum viel verdienten und wohlwollenden Applaus. Trotz teils schwacher Arien jubelten die Zuschauer auch Stefan Pop zu, der - zugegebenermaßen - an den entscheidenden Stellen hellwach war und vor allem im Duett als zurückgenommener Gegenpart überzeugen konnte. Hervorzuheben ist nicht nur die fabelhafte Gesangsleistung von Ailyn Pérez, die auch schwierige Passagen der komplexen Verdi-Partitur mühelos sang. Auch ihr Spiel wirkte sehr überzeugend. Vor allem ihre Schwindsucht mimte sie gekonnt. 

12 Februar 2013

"Medienfasten": Die etwas andere Kur. – Eine ungewollt komische Bilanz.

Anstatt auf Süßkram oder Alkohol zu verzichten, plante ich dieses Jahr einen neuen Selbstversuch für die Fastenzeit: "Medienfasten". Eine ungewollt komische Bilanz.

Die meisten "Fastenwütigen" verzichten auf Zigaretten, Alkohol oder Süßkram.
Der Autor will auf Medien verzichten. Foto: eva.siebenhaar,
 Rechte: http://creativecommons.org/licenses/by-nc/3.0/deed.de
Zugegeben: Ich habe eine sehr, sehr lange Zeit gebraucht, um mich von den konventionell-kritischen Tönen gegenüber Smartphones und "dem Internet" loszumachen. Genauer gesagt stand ich dem Internet sogar noch skeptisch gegenüber als ich begann "kulturlog" zu schreiben. Das ist nun beinahe 2 Jahre her. Seitdem hat sich meine Internetnutzung verdoppelt, mein altes Nokia-Handy (inklusive Schwarz-weiß-Bildschirm und schädlichen Strahlen) wurde durch ein iPhone ersetzt und auch meine langjährige Facebook-Abstinenz wurde im Mai 2012 gebrochen. Auch zwitscherte ich zwischen Juli 2011 und August 2012. Doch spätestens als immer mehr "Twitterexperten"in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern auftauchten war ich mir sicher, dass ich mit meiner Entscheidung gegen weiteres "Gezwitscher" richtig gelegen hatte. Das Aufrufen von Spiegel Online, stern.de und das Überfliegen der Webseite des "Freitags" gehörten nach kurzer Zeit schon direkt nach dem Aufstehen zu einem gelungenen Morgen dazu wie die obligatorischen Tassen Kaffee. Ich schrieb mindestens dreifach so viele E-Mails wie früher (und unter Zweidritteln fand sich der Hinweis: "von meinem iPhone gesendet"), tippte kaum noch SMS, verschickte dafür aber umso mehr Medien, Sprachnotizen und Nachrichten per Whatsapp. Kurzum: Das Smartphone hatte in kurzer Zeit mein Online- und Medienverhalten umgekrempelt. Von einem Online-Skeptiker war ich zu einem Online-Begeisterten geworden. Zumindest begeisterten mich die mannigfaltigen Möglichkeiten, die ich mit einem winzigen Gerät hatte, das dazu auch noch umwerfend aussah. Doch auch stellte ich immer wieder fest, dass Smartphones ganz schön nervig sein konnten. Wollte ich zum Beispiel ungestört Musik hören, musste ich den Ton meiner Nachrichtendienste auf dem Handy ausschalten. Tat ich das, verpasste ich trotz Vibrationsalarm zuweilen wichtige Anrufe. Ab und zu vergas ich in der Nacht das Telefon stumm zu stellen - man schellte mich aus dem Schlaf. Manchmal auch durch mehr als unnötige "Eilmeldungen" von S.P.O.N. Es interessierte mich in meiner nächtlichen Ruhe einfach nicht, dass das "Spitzenspiel Bayern gegen den BVB torlos" zu Ende gegangen war. Natürlich hätte ich mein Handy einfach ausschalten können; da kam ich aber erst später drauf. Eine Zeit lang fühlte ich mich wie ein Sklave meines Telefons. Anrufe musste ich sofort annehmen, Whatsapp-Nachrichten und SMS umgehend beantworten. Daher war ich letztes Jahr auch sehr erstaunt, als ich das erste Mal von "Medienfasten" hörten. Bei dieser neuen Art des Fastens verzichten Menschen nicht auf ungesunden Kram wie Zigaretten oder Süßigkeiten sondern auf das aktiv sein im Internet. Manche schalten bloß Facebook ab, andere schalten ihren Router vollständig aus. An sich ist das ja eine feine Sache. Bloß überlege ich mir immer wieder welchen unheilbaren Schock ich erlitte, wenn ich nach der Fastenzeit mein Postfach öffne und hunderte ungelesener E-Mails empfange und diese auch noch beantworten muss. Die Facebook-Nachrichten würde ich überfliegen und vermutlich nicht beantworten, außerdem bräuchte ich immer Stunden um die aktuellsten Neuigkeiten herauszufinden. Das Fernsehen bringt Eilmeldungen nämlich mindestens eine halbe Stunde nachdem S.P.O.N. oder die "tagesschau"-App selbige brachten. Manch "Fastenwütiger" verzichtet lieber auf andere Medien. Tageszeitungen (naja - darauf verzichten viele bereits so!), Radio (wer hört sich denn eine halbe Stunde Werbung an?) oder das Fernsehen (nur sinnvoll, wenn man ständig RTL2 oder VOX oder ähnliches schaut). Ich habe mich noch immer nicht entschieden in welcher Form und mit welchen Medien ich fasten sollte, aber eines weiß ich: Alleine für den Begriff "Medienfasten" lohnt es sich über diese spezielle und etwas andere Kur nachzudenken!

29 Januar 2013

Das Siechtum des Altherrenwitzes. – Ein Kommentar.

Seit Tagen wird in Deutschland der "Fall B." heftigst diskutiert. Dabei geht es längst nicht mehr um einen Einzelfall - es geht um die Frage ob Deutschland fähig ist eine Debatte über Sexismus angemessen zu führen. Ein Kommentar.

Mit lüsternen Augen gafft ein Mann mittleren Alters die Kellnerin eines Eiscafés an während diese routiniert wie immer die Bestellung des Herrn aufnimmt. Solche Szenen sind in Deutschland leider noch immer tägliche Realität. Männliche Augenpaare wandern von Dekolleté zu Dekolleté und von Hintern zu Hintern. Ab und zu greifen sie danach, manchmal reicht ihnen ein zotiger Spruch um sich anschließend genüsslich zurückzulehnen und sich wieder sich selbst zu widmen. Ob in der U-Bahn, im Café oder Restaurant, im Büro oder in den Fußgängerzonen; Sexismus und Frivolität kennen keine festen Grenzen. Ihnen zu entgehen ist praktisch unmöglich. Seit Tagen wird in Deutschland nun der so genannte „Fall B.“ (wahlweise auch „Fall H.“) diskutiert. Eine Journalistin wirft Herrn B. vor, er habe sich ihr gegenüber unflätig verhalten. Ob sie es wollte oder nicht, in den Feuilletons und auf den Straßen, in den Friseursalons und am Stammtisch hat sie mit ihrem Artikel eine überfällige Debatte über Sexismus in Deutschland losgetreten. Schon längst geht es nicht mehr um einen „Fall B.“ sondern um die Frage wo die Trennlinien zwischen Sexismus und Spannerei, zwischen gewollter Provokation und blanker Unwissenheit liegen. Sich als Mann zum Thema Sexismus zu äußern scheint vielen sehr schwer zu fallen. Entweder nehmen die Herren eine radikale Verteidigungslinie ein oder sie werden ausfällig. So ist es Ulf Poschardt geschehen, der dem „Stern“ in dem der Artikel über Herrn B. zu lesen war, vorwarf es sei eine „Godard-Pointe“, dass gerade dieses Magazin, welches den „weiblichen Körper gern in seiner nacktesten Form zum Verkauf anbietet“ diese Debatte hatte beginnen müssen. Was haben die Titelseiten des „Stern“ mit einer inzwischen wesentlich breiter geführten Debatte über Sexismus zu tun? Es scheint  hierzulande nicht möglich zu sein wichtige Themen ohne ein Fallbeispiel zu erörtern. Sexismus ist hierbei bloß das aktuellste Beispiel. Die Frage wo die Grenzen des guten Geschmacks und der Anfang des siechen Altherrenwitzes liegen, muss nun endlich einmal zu Ende geführt werden! Sich hinter einen „Stern“-Artikel zurückziehen und ihn bis in die letzte Pore zu analysieren oder die Journalistin beziehungsweise den Herrn B. zu beleidigen, kann nicht das eigentliche Ziel sein. Es wird Zeit, dass Sexismus und seine Ausformungen auf Augenhöhe und ohne Anfeindungen zwischen Männern und Frauen diskutiert werden.

Anmerkung: Am 31. Januar 2013 erschien in der "Berliner Gazette" eine stark erweiterte Ausgabe dieses Kommentars. http://berlinergazette.de/sexismusdebatte-aufschrei/