15 Februar 2016

Kommentar: Die Kraft der Sachlichkeit. – Gedanken über ein Interview mit Rita Süssmuth.

Sachliche Töne sind in der Debatte um Flüchtlinge, die Deutschland derzeit bewegt, eine Seltenheit. In der "Süddeutschen Zeitung" hat sich nun Dr. Rita Süssmuth, jahrzehntelange Bundestagsabgeordnete, Bundestagspräsidentin und Ministerin a.D., geäußert. Ich empfehle jeder Leserin und jedem Leser wärmstens, dieses Interview zu lesen. Sie entwickelt ein paar Gedanken, die in diesem Artikel etwas weitergesponnen werden sollen.

Es ist bezeichnend, dass die ruhigen, die sachlichen Töne in der aktuellen Debatte um Flüchtlinge von einer alten Dame der Politik, Rita Süssmuth (78, CDU), kommen. Ich empfehle jedem Leser wärmstens das Interview mit ihr in der SZ zu lesen. - Süssmuths Hinweise auf das uns zu Würde einem jeden Menschen gegenüber verpflichtende Grundgesetz, die Bedeutung von Ethik und ihre Besonnenheit, sollten uns alle dazu antreiben sich konstruktiv und gestalterisch an aktuellen Fragen der Politik zu beteiligen.
Jegliche Form von Populismus, jede einfache Antwort, sollten wir mit Spott überziehen und sie mit einem Plädoyer für eine demokratisch verfasste, alle Menschen integrierende Gesellschaft bedenken.

Dass Integration eine anspruchsvolle Aufgabe ist, derer sich ein Land vereint und auf vielen unterschiedlichen Ebenen annehmen muss, sollte uns bewusst sein. Es gibt viele Fallstricke und Hindernisse. Wenn wir uns aber dieser Aufgabe verschreiben, schaffen wir eine Grundvoraussetzung dafür, dass unser Land in einigen Jahrzehnten noch immer als lebenswerter- und die Würde eines jeden Einzelnen achtende Ort wahrgenommen wird. - Wer immer nur gegen Veränderung wettert und sich aus Angst in ein nationalistisches Gehäuse zurückzieht, verkennt, dass das Leben gleichbedeutend mit Veränderung ist.

Es gehört zu einer wichtigen Aufgabe der Politik ein modernes Einwanderungskonzept auf den Weg zu bringen, was den Status Deutschlands als Einwanderungsland anerkennt und Einwanderung als eine Bereicherung unserer Kultur und unseres öffentlichen Lebens wahrnimmt. Auch unsere Bildungslandschaft sollte im Zuge der Veränderungen, die unser Land durchläuft, mit neuen Ideen angereichert werden. Es gilt sich zu entscheiden, ob man ein föderalistisches Bildungskonzept weiterverfolgen kann, wenn Unternehmer und Politiker immer wieder nach der Vergleichbarkeit einzelner Abschlüsse fragen. Föderalismus kann eine Stärke eines Bildungssystems sein. Jedoch nur, wenn man davon absieht beständig Vergleichbarkeit zu fordern. - Wenn jedes Bundesland wieder über das eigene Bildungskonzept nachdenken darf, kann daraus eine mächtige Quelle der Innovation entspringen, die Integration wirklich in den Mittelpunkt stellt und sie nicht nur als einen Punkt in den Lehrplänen begreift.

Von der heute als "Krise" begriffenen Veränderung, die unser Land durchlebt, können wir alle profitieren, wenn wir die Kräfte, die Veränderung freisetzt, gestalterisch nutzen.

08 Februar 2016

Der Meistererzähler. – Ein Nachruf auf Roger Willemsen.

Roger Willemsen ist im Alter von 60 Jahren verstorben. Für mich war er mein erstes großes Vorbild auf der Bühne der Kulturschaffenden und Intellektuellen. Dieser Nachruf ist eine persönliche Geschichte über Begegnungen mit einem Mann, der für mich wie kein Zweiter die Kunst des Erzählens beherrschte.

Als ich im August letzten Jahres davon hörte, dass bei Roger Willemsen kurz nach seinem 60. Geburtstag Krebs diagnostiziert wurde und er kurz darauf all seine öffentlichen Auftritte absagte, beschlich mich das ungute Gefühl, dass er nicht mehr lange leben würde. Ich hätte mich gerne geirrt; doch am 7. Februar 2016 ist Roger Willemsen gestorben.
Kein anderer Intellektueller der letzten Jahrzehnte hat mich von Anfang an so in seinen Bann gezogen wie Roger Willemsen. Mit 14 Jahren bekam ich erstmals sein Buch "Deutschlandreise" zwischen die Finger und las es begierig durch. In diesem Werk bereist Willemsen Deutschland Anfang der 2000er mit dem Zug und zeichnet ein Bild eines Landes zwischen Stillstand und Wandel, zwischen Beton und Stahl, öden Landstrichen in einem Ostdeutschland knapp zehn Jahre nach der Wende und parfümierten Mittvierzigern auf der Nordseeinsel Sylt. – Roger Willemsen war gesegnet mit einer bildhaften Sprache, unendlich viel Humor und einer feinen Beobachtungsgabe. Sein Talent Behaglichkeit in einer Gesprächssituation zu schaffen und sein Mut dahin zu gehen, wo Provokation tiefe Wunden reißt, machte seine Interviews legendär. Er traf Guantanamo-Häftlinge, begab sich zu den Taliban, rauchte Opium, bereiste die Welt und versuchte Helge Schneider zu bändigen.

All dies führte dazu, dass meine Ehrfurcht vor diesem Mann und meine Neugierde auf ihn immer größer wurden bis ich mich 2009 entschloss, ihm eine E-Mail zu schreiben und um ein Interview zu bitten. Die Antwort folgte prompt. Natürlich sei er gerne bereit dazu, er freue sich auf das Gespräch und lade mich zu einer Veranstaltung im Magazin-Kino in Hamburg ein. Da könnten wir dann ja vor seinem Auftritt sprechen. - Das Interview dauerte eine Dreiviertelstunde und machte unheimlich viel Spaß. Ich stellte vermessen große Fragen, stammelte dann und wann vor mich hin, versuchte große Bögen zu spannen - und Willemsen lächelte und antwortete. Ihm machte das Gespräch offensichtlich genauso viel Spaß wie mir. - Nach dem Interview schüttelte er mir die Hand. Ich drückte sie, sprach ihm meine tiefe Bewunderung aus und er dankte verlegen. Nach der Veranstaltung schrieb er mir eine persönliche Widmung in die "Deutschlandreise": "Für Tobias Lentzler - in Erinnerung an eine schöne Begegnung." Fortan begleitete mich dieses Buch.

Nach meinem Gespräch mit ihm, habe ich Roger Willemsen noch einige Male auf seinen Veranstaltungen besucht und immer kurz mit ihm geplaudert. Er erinnerte sich jedes Mal an mich. Einmal stellte er mir Dieter Hildebrandt vor, ein andermal traf ich ihn zufällig in der Osteria Due in Hamburg. - Roger Willemsen war ein warmherziger Mann, ein Mensch, der für die Literatur und die Musik lebte, der immer neugierig die Welt bereiste und vor allem fabelhaft davon zu erzählen wusste.

Roger Willemsen war ein Meistererzähler. Mit seinem Charme und seiner feinen Art zu erzählen, hat er die deutsche Intellektuellenlandschaft geprägt. Er wird uns als ein sich einmischender Intellektueller und aufgeschlossener Mann in Erinnerung bleiben. Ich bin dankbar, dass ich ihm einige Male begegnen durfte.