29 Oktober 2017

Intellektuelle Streifzüge. – Persönliche Annäherungen an das Denken von Hans Ulrich Gumbrecht.

Der Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht ist eine Inspiration für das eigene Denken. Dieser Text ist eine persönliche Annäherung. 

Ein Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht ist wie der Gang durch eine weite, verwinkelte Bibliothek. Jede Regalreihe hält neue Überraschungen bereit. Man möchte permanent stehen bleiben, einen alten Folianten oder ein neues, noch druckfrisch duftendes Buch aus einem der vielen Regale ziehen und sich darin versenken. Am Ende eines jeden Streifzuges durch diese Bibliothek ist man ausgestattet mit einem erklecklichen Stapel neuer Bücher, die zu lesen es sich lohnt, und hat einen Notizblock voll neuer Denkansätze und Fragen.

Ich treffe Hans Ulrich Gumbrecht zu einem frühen Frühstück an einem kalten Oktobertag in Mainz. Es ist noch dunkel als wir unser Gespräch beginnen, doch Sepp, wie er sich mir vorstellt, ist hellwach. - Edmund Husserl hat einmal geschrieben, dass der Philosoph immer neuer Beginner sei. Diese Beschreibung scheint mir auf Hans Ulrich Gumbrecht gut zuzutreffen. Es gibt - bemerke ich bei meiner Vorrecherche - kaum ein Thema über das er nicht schon publiziert hat. Er schreibt über Fußball, den Typus neuer Intellektueller im Silicon Valley oder über "unseren Ethik-Hype". Über zweitausend Texte hat er in den letzten vierzig Jahren publiziert; darunter gewichtige Bücher wie "Production of Presence. What Meaning Cannot Convey" oder den phänomenologischen Versuch "In 1926. Living On The Edge Of Time", welches den Leser direkt in das Jahr 1926 entführen soll. - Sepp ruht sich nicht darauf aus originelle Gedanken, die er einst gehabt hat in einem Gespräch zu reproduzieren, sondern lässt sich darauf ein dem Gespräch seinen Lauf zu lassen. Möglich macht dies seine ungeheure Belesenheit. Er ist jederzeit in der Lage Autoren geschickt miteinander zu verknüpfen, Ideen aufzugreifen und so den Denkrahmen abzustecken, in dem wir uns bewegen. Die persönlichen Erfahrungen als Professor in Stanford, dem Ursprung des Silicon Valley, lässt er ebenfalls einfließen und macht seine Gedanken so lebendig. In den anderthalb Stunden, die wir sprechen ist er voll und ganz im Gespräch. Es existiert nur die Gegenwart, alle anderen Termine, die er hat - Seminare, Reisen zu weiteren Vorträgen überall auf der Welt - spielen in dieser Sekunde keine Rolle. 

Großen Raum nimmt in unserem Gespräch die Digitalisierung ein. Sepp hat einmal gesagt er lebe dort, wo sich das 21. Jahrhundert ereignet. Liest man diesen Satz einfach so, könnte man schnell auf die Idee kommen er sei - wie im Silicon Valley üblich - mit Überschwang und Euphorie gesagt worden. Doch spricht man mit Gumbrecht, liest seine Texte und vernimmt die Zwischentöne, ist dies zunächst eine bloße Feststellung. Natürlich schwingt eine gewisse Faszination mit, wenn er über Studenten spricht, die binnen weniger Stunden viele Millionen für ein Start-Up einsammeln und am Nachmittag mit Verve und Verstand über Nietzsche oder Heidegger diskutieren, aber gleichzeitig gilt, dass er mit der Digitalisierung weder Hoffnung noch Pessimismus verbindet. "Die Digitalisierung ist so wenig abstellbar wie eine Sonnenfinsternis", sagt er.  - Sepp ist, so lese ich seine Bücher und nehme ihn in unserem Gespräch war, ein feiner Beobachter unserer Zeit. Er ist kein Chronist, vielmehr ein Phänomenologe, der Beobachtungen für andere erlebbar macht und ihnen einen intellektuellen Rahmen gibt. Er denkt weit über die ausgetretenen Denkpfade hinaus und erlegt sich keine intellektuellen Scheuklappen auf. Er nennt das "riskantes Denken". - Intellektuelle Provokationen sind fruchtbar. So erzählt er von einem Kollegen, der unter anderem behaupte, George W. Bush sei einer der größten Präsidenten der US-Historie gewesen. Selbst, wenn er kaum glaube, dass dieser Kollege es ernst meine, löse er damit im Idealfall aus, dass andere sich über den Satz Gedanken machen, sagt Gumbrecht.

Dieser Text ist nicht der Ort alle Themen wiederzugeben, die wir miteinander besprochen haben. Diese müssen erst systematisch durchgedacht werden. Der Text ist vielmehr ein persönlicher Versuch sich an das Denken von Hans Ulrich Gumbrecht anzunähern. Basis für seine intellektuellen Gedankenspiele sind - so ist mein Eindruck - eine tiefe Faszination für eine Vielzahl an Themen und vor allem eine tiefgreifende Belesenheit. Gerade in heutigen Zeiten verhindert der Mangel an Belesenheit bei vielen in meinen Augen fruchtbare Diskurse, die über das Austauschen bloßer Befindlichkeiten hinausgehen. Sepps Denken ist mir eine große Inspiration.  

  

26 Juni 2017

Kommentar: Sicherheit um jeden Preis!

Kaum ein Thema wird derzeit einseitiger diskutiert als die öffentliche Sicherheit. Terrorangriffe in unterschiedlichen europäischen Metropolen, allen voran in den letzten Monaten immer wieder in London, lassen Politiker aller Parteien noch mehr Spielraum für die Sicherheitsbehörden einfordern. Die Bundesregierung ging nun so weit ein weitreichendes Überwachungsgesetz zu verabschieden, dass mittels so genannter "Staatstrojaner" private Kommunikation durch eine aufgespielte Schadsoftware direkt an der Quelle mitlesen kann. Dieser Eingriff in die Intimsphäre der Bundesbürger nimmt den Menschen ein Stück weit ihre Würde.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" - so steht es in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Es ist ein mächtiger, ein unmissverständlicher Satz. Artikel 1 ist das wichtigste Grundrecht dieses Staates. Und dennoch scheint es dieser Tage mit der Achtung und dem Schutz der Würde aller Menschen nicht weit her zu sein. Terrorattacken gegen europäische Metropolen, ob Paris, Berlin oder zuletzt immer wieder London, haben Politiker und Bürger gleichermaßen verschreckt. Kaum verhallt die erste Berichterstattung über einen neuerlichen Anschlag, stehen Politiker aller Parteien bereit und fordern mehr Sicherheit. Über kein anderes Thema wird derzeit so einseitig diskutiert. In den Augen fast aller Politiker gibt es nur noch ein "mehr" an Sicherheit. Unsere wichtigsten Grundrechte werden dabei achtlos eingeschränkt oder zumindest geflissentlich ignoriert.

Der Bundestag beschloss vergangenen Donnerstag ohne nennenswerte Debatte ein "Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens". In einem Änderungsantrag - nicht im Entwurf selbst - wurden so genannte "Staatstrojaner" ins Verfahren eingebracht. Mittels Schadsoftware lässt sich somit laufende private Kommunkation, zum Beispiel auf WhatsApp, direkt an der Quelle mitlesen. Ein ungeheuerlicher Eingriff in die Intimsphäre und die Freiheit eines jeden Bürgers! Freiheit und Würde sind eng miteinander verknüpft. Wer einem Menschen einen Teil seiner Freiheit nimmt, der nimmt ihm auch ein Stück seiner Würde.

Um das klarzustellen: Wer eine Straftat begeht, soll dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Doch sollten zugleich Grund- und Bürgerrechte immer geschützt werden. Wer wie Theresa May im britischen Wahlkampf dazu bereit ist Menschenrechte einzuschränken, um im Antiterrorkampf erfolgreich zu sein, muss in die Schranken verwiesen werden! Die Menschenrechte sind unveräußerlich. Sie machen keinen Unterschied zwischen Hautfarbe oder Religion, Geschlecht oder Herkunft. Die Würde eines jeden einzelnen zu bewahren, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt - so steht es - wie oben zitiert - in Artikel 1 des Grundgesetzes.

Die Bundesregierung muss sich fragen, ob sie mit ihrem neuen Gesetz nicht über das Ziel hinausgeschossen ist. Bevor Maßnahmen zur Terrorbekämpfung immer weiter verschärft werden, sollten bestehende Gesetze vollumfänglich und korrekt angewendet werden. Am Ende hilft das beständige Einschränken der bürgerlichen Freiheiten nämlich nicht einer offenen und freien Gesellschaft, die Politiker verteidigen wollen, sondern den Spaltern und den Terroristen.

09 Juni 2017

Kommentar: Demokratie als Wettstreit der Ideen

Nicht erst die britische Parlamentswahl hat gezeigt, dass Politikstile, die sich größtenteils an Umfragen ausrichten zum Scheitern verurteilt sind. Politische Entscheidungen bedürfen immer des Weitblicks. Das Tagesgeschäft und die Kurzlebigkeit unserer medial geprägten Welt dürfen den Blick darauf nicht verstellen.

Der 8. Juni hätte für die britische Premierministerin Theresa May ein Freudentag werden sollen. Als sie im April dieses Jahres überraschend Neuwahlen ankündigte, sagten viele Demoskopen einen ungefährdeten Sieg und einen Ausbau der absoluten Mehrheit der Tories, ihrer konservativen Partei, voraus. Die Wahrheit ist: May hat mit den Tories die absolute Mehrheit im britischen Parlament verloren. Ihr Herausforderer Jeremy Corbyn hingegen hat mit seiner Labour-Partei viele Sitze hinzugewonnen. Der von vielen heraufbeschworene Untergang  der Partei Corbyns hat nicht stattgefunden.
Die britische Premierministerin hat sich verspekuliert. Sie wollte durch einen grandiosen Wahlsieg ihre Position in den Austrittsverhandlungen Großbritanniens aus der Europäischen Union ("Brexit") stärken. Das ist nicht gelungen. Stattdessen steht May in der Kritik ohne Not Neuwahlen angesetzt zu haben. Auch Wahlkämpferqualitäten werden ihr abgesprochen.

Doch Analysen, die Mays Versagen in den Mittelpunkt rücken, verkennen ein Muster, das weit über Großbritannien hinaus eine Rolle spielt. Wer sein politisches Schicksal an Umfrageergebnisse knüpft oder gar selbst immer wieder Umfragen in Auftrag gibt um eine Politik zu machen, die möglichst wenigen Menschen wehtut, verkennt, dass hehre politische Ziele nur durch Ausdauer und Langmut erreicht werden können. Beispielhaft für eine Politik, die über den Tag hinaus denkt, ist in Deutschland noch immer der erste SPD-Bundeskanzler Willy Brandt, der in den 1960er-Jahren durch seine, gemeinsam mit Egon Bahr entwickelte Ostpolitik eine langsame Annäherung West-Deutschlands an die gesamte Sowjetunion ermöglichte.

Visionen sind nicht immer populär. Oftmals laufen sie sogar diametral der gegenwärtigen Wahrnehmung oder den Wünschen der Bürger entgegen. Deshalb muss eine langfristig gedachte Politik den schwierigen Doppelschritt vollziehen ein offenes Ohr für die Sorgen und Bedürfnisse, die Wünsche und Gestaltungsideen der Bürger haben, zugleich aber auch immer wieder unabhängig davon agieren. Selbstverständlich müssen Vorstellungen und Pläne immer wieder öffentlich verhandelt und mit Verve diskutiert werden. Doch gerade in einer von Kurzlebigkeit geprägten Welt sind Unabhängigkeit von populären Meinungen, von "Hypes" und einschneidenden Ereignissen entscheidend. Demokratie ist im Idealfall ein lebendiger Wettstreit der Ideen. Er sollte sich nicht von aktuellen Trends korumpieren lassen, die morgen wieder verblasst sind. Vielmehr sollten echte Probleme in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskures gestellt werden.

Begreifen wir Demokratie als eben jenen lebendigen Wettstreit der Ideen, so ist jeder Bürger aufgerufen sich daran zu beteiligen und ihn aktiv mitzugestalten. Das Tagesgeschäft und die Kurzlebigkeit unserer medial geprägten Welt dürfen den Blick darauf nicht verstellen.

28 Februar 2017

„Es bringt nichts, zu resignieren!“ – Alternativen zu einer konservativen Revolution. Claus Leggewie im Interview.

Claus Leggewie, der Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI) in Essen, zählt zu den profiliertesten und umtriebigsten "public intellectuals" in Deutschland. Er prägte unter anderem den Begriff "Multi-Kulti" in Deutschland - lange bevor er die öffentliche Debatte bestimmte - und mischt sich immer wieder mit Verve und Gewandtheit in aktuelle gesellschaftliche Debatten ein. Er forscht zu einer Vielzahl von Themen. Dazu zählen der Klimawandel, die Globalisierung sowie die politische und wissenschaftliche Kommunikation im Netz. - Im Interview mit "kulturlog" spricht er über die Notwendigkeit einer neuen und überzeugenden Erzählung der politischen Linken, den derzeit grassierenden Rechtspopulismus und die Bedeutung Europas.

Herr Prof. Leggewie, kürzlich saß ich in einem Ihrer Vorträge zur Wahl Donald Trumps. Mir fiel auf, dass ein Großteil der Zuschauer nicht im Studierenden-Alter war. Welche Bedeutung hat das Fach Geschichte heute noch für junge Menschen und welche Bedeutung sollte es haben?

Das Fach Geschichte hat in meinen Augen immer noch eine große Bedeutung, nur zieht das von Ihnen beschriebene Format eines Vortrages mit anschließender Diskussion bei Jüngeren nicht mehr. Ich beobachte, dass es viele jüngere Menschen nicht mehr anzieht. Seit das KWI vor drei, vier Jahren auf Facebook und Twitter begonnen hat, Werbung zu machen, kommen mehr junge Leute. Aber ich vermute, das liegt eher an den Zeitläufen. Brexit, Trump und die Gefahr von Le Pen haben zu einer höheren Diskussionsbereitschaft selbst und gerade über das Thema Europa geführt.

Wie beurteilen Sie Diskussionsverläufe, die nicht in Vorträgen, sondern im Netz stattfinden?

Das vorherrschende Format ist dort nicht das Diskursive, das von Widersprüchen lebt, sondern die Neigung, sich exklusiv mit seinesgleichen zu unterhalten. Das Netz gleicht an manchen Stellen einer Kloake, was Kommentare unter Zeitungsartikeln oder Facebook-Posts angeht. Diese Form der Kommunikation schlägt alle Beiträge tot, die substanziell sind. Meine Kritik ist, dass es nur noch um Likes und Non-Likes, also um Prominenz-Tests geht und nicht mehr um die Sache. Am schlimmsten sind Bots und Internet-Trolle: Wenn ich mich kritisch zu Russland beziehungsweise Putin äußere, erhalte ich nach der Veröffentlichung Shitstorms.

Die Auseinandersetzungen im Netz gleichen denen, die es in den 1920er und 1930er-Jahren in der Weimarer Republik zwischen Kommunisten und Faschisten auf der Straße gab. In der öffentlichen Debatte wird daher gegenwärtig gerne von einem „Weimar 2.0“ gesprochen. Wie berechtigt ist in Ihren Augen die Sorge, dass sich Geschichte wiederholt? Welche Rolle spielt eventuell eine gewisse Geschichtsvergessenheit dabei?

Geschichte wiederholt sich nie und aus der Geschichte kann man nichts lernen, haben die Historiker recht autoritativ festgestellt. Das „Weimar-Syndrom“ hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu zahlreichen Übertreibungen der wehrhaften Demokratie geführt. Vom Weimar-Vergleich ist also wenig zu halten - außer zurzeit. Ich glaube, dass wir wieder in eine lange Welle des Autoritarismus eingetreten sind, der in den Zwanzigern, teilweise auch schon um die Jahrhundertwende, begonnen hat. Mit dem Aufkommen dieser Welle sind die glücklichen Zeiten der Weimarer Republik in den Jahren 1923/24 und 1928 jäh abgebrochen. Deutschland ist hierbei keinen Sonderweg gegangen, dasselbe gilt für Mussolinis Italien, die Machtübernahme Lenins bis hin zum Stalinismus und auch für viele andere Regionen Europas und der Welt. Diese Welle des Autoritarismus hat bis in die 1950er-Jahre gedauert. Danach nahmen die Merkmalsverdichtungen autoritärer Persönlichkeiten wieder ab. Ungleichheiten wurden zunächst durch den Krieg, dann aber vor allem durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates, die Bildungsrevolution und durch den Einstieg von Frauen in den Arbeitsmarkt sehr stark eingedämmt. Bis Mitte oder Ende der Siebzigerjahre reicht diese Gegenbewegung und löst danach an verschiedenen Stellen in der Welt neue Formen des Autoritarismus aus. Hierbei sind vor allem die Islamische Revolution 1979, die neoliberal-autoritären Projekte von Margaret Thatcher und Ronald Reagan und ein zunehmend euro- bzw. EU-skeptischer Populismus zu nennen. Letzterer hat sich des leeren Begriffs „populus“ bedient und ihn in eine exklusive, völkische Variante transformiert, die ganz klar dem alten Rechtsradikalismus beziehungsweise Faschismus zuneigt. Insofern trifft der Weimar-Vergleich cum grano salis zu. Geschichte wiederholt sich zwar nicht und man kann auch wenig aus ihr lernen, aber wir sind definitiv in eine neue Welle eingestiegen. - Ich möchte an dieser Stelle kurz noch mal die Gegenwelle beschreiben, die Gesellschaften modernisiert hat: das war die anti-autoritäre, libertäre Welle. Sie ist ein Grund für Schärfe und Dramatik des populistischen beziehungsweise völkisch-autoritären Rückstoßes. Im Raum steht der Gedanke einer Revanche für die Kulturrevolution 1968.

Wie beurteilen Sie die Kulturrevolution der „68er“ heute? Was daran reizt die Rechtspopulisten  so sehr, dass sie eine Konterrevolution anzetteln wollen?

Man kann „68“ als „glücklich gescheitert“ beschreiben, weil diese Kulturrevolution vieles bewirkt hat, was sie gar nicht bewirken wollte; eine Liberalisierung der Gesellschaften, mehr  Wohlfahrtsstaat, Vollbeschäftigung. Jürgen Habermas nannte es eine „Fundamental-Liberalisierung der Bundesrepublik“. Das kann man auf einen Großteil Europas zu der Zeit ebenso anwenden. Es entstanden Phänomene wie: ein Lob der Vielfalt, Multikulturalismus, die Frauengleichstellung, die Liberalisierung unserer sexuellen Vorstellungen und dergleichen mehr. Die Gesellschaften zeigen sich so bunt wie sie schon immer waren und werden noch bunter durch die 68er.
All das hat die Völkisch-Autoritären, die Ultra-Konservativen und die Rechtsradikalen über Jahrzehnte hinweg gestört. Was mit dem Namen „68“ richtiger- und falscherweise verbunden ist, soll in ihren Augen nun umgekehrt werden. – Den Versuch einer konservativen Revolution hat es schon 1968 in Form der Nouvelle Droite (deutsch: Neue Rechte) mit Leuten wie Alain de Benoist und danach immer wieder gegeben. Sie ist nie wirklich gelungen, aber jetzt hat sie gewisse Chancen. Die Identitären greifen explizit darauf zurück und bedienen sich ironischerweise 68er Methoden der subversiven Aktion für ihre Konservative Revolution.

Teilen Sie die Einschätzung, dass es derzeit keine überzeugende Erzählung der politischen Linken gibt? – Die These ist ja, dass die politische Linke sehr lange durch eine große Arbeiterklasse ein einendes Element hatte und durch den Gedanken von Gleichstellung eine überzeugende Erzählung liefern konnte. – Die neueren Ideen der politischen Linken, die einer bunten und pluralistischen Gesellschaft, scheinen nicht allen zu gefallen. - Welche Ideen müsste die politische Linke einer konservativen Revolution entgegensetzen?

Der Abschied von einer – am Schluss nur noch an einem Mythos klebenden – Proletariats-Fixierung der politischen Linken ist in den Siebziger- oder Achtzigerjahren erfolgt. Mein politischer Lehrer André Gorz, übrigens ein hochaktueller Autor, hat zu jener Zeit in Frankreich das Buch „Adieux au prolétariat“ (deutscher Titel: Abschied vom Proletariat – jenseits des Sozialismus) geschrieben. Gorz hatte – auch durch sein Exil und seine Verankerung im politischen Existenzialismus - einen unverstellten Blick auf Dinge, die sich gesellschaftlich verändern. Die sozialen Bewegungen der Sechziger- bis Achtzigerjahre waren dabei ganz entscheidend. Gorz hat gesehen, dass das Selber-machen der Politik, das Bottom-Up, das Partizipative, nicht weniger war als eine Beteiligungsrevolution. Natürlich setzte sich das stark ab von dem eher autoritären Organisationsmodell der Arbeiterbewegung. Inklusive der Sozialdemokraten haben viele diesen Schock noch nicht ganz überwunden. Weil diesen Parteien kaum mehr junge Leute folgen, schrumpfen sie. – Ich bin davon überzeugt, dass in der Arbeiterbewegung durch die Kompression, die sie über Wellen der Globalisierung in den Kernländern des Industrialismus erfahren hat, Züge zum Erscheinen gebracht wurden, die immer da waren: rassistisch-xenophobes Gedankengut oder Frauenfeindlichkeit zum Beispiel. Der französische Soziologe Didier Eribon hat das in „Rückkehr nach Reims“ anschaulich beschrieben. – Diese Züge waren in der klassischen Arbeiterbewegung gewissermaßen eingefroren, weil sich alles dem Ziel einer Revolution unterordnete. Nun, da sie freigesetzt sind, führen sie zu einer massenhaften Abwanderung von Arbeiterschichten nach ganz rechts. Wir dürfen allerdings nicht den Fehler machen dieses Phänomen als den neuen Charakterzug des Proletariats zu begreifen. Die völkisch-nationalistischen Gruppen erfahren ihre meiste Unterstützung aus der Mittelschicht. – Um das Proletariat zurückzuholen, bedarf es einer neuen linken, modifiziert anti-kapitalistischen Programmatik, die drei Dinge kombinieren müsste: Zunächst eine inklusive Politik für soziale Gerechtigkeit, zweitens alle Fragen, die mit ökologischer Nachhaltigkeit verbunden sind. Dieser Gedanke umfasst nicht nur den Umweltschutz, sondern fordert eine gemeinwohlorientierte Ökonomie, die sich an den Global Commons, den global öffentlichen Gütern, aber auch den local commons, orientiert. Diese Orientierung könnte etwa mit einem bedingungslosen Grundeinkommen kombiniert werden. Drittens müsste mit der anti-kapitalistischen Programmatik und einer gemeinwohlorientierten Ökonomie ein digitaler „Wissenskommunismus“ einhergehen, der auf Open-Access-Produkte setzt. Zurzeit wird das Internet von Geschäftsmodellen der Großkonzerne aus dem Silicon Valley und China dominiert. – Viele der genannten Ideen tauchten bereits in den 1970er-Jahren auf. Leider sind sie nicht in die Post-1989-Sozialdemokratien eingeflossen. Dort allerdings gehören diese Ideen dringend auf den Tisch! – Diese sehr konkreten, reformorientierten Konzepte könnten vermutlich viele Leute wieder überzeugen, die im Moment frustriert sind.

Der in Yale lehrende Philosoph Thomas Pogge betont im Hinblick auf die Menschenrechte die Pflicht eines jeden Menschen etwas gegen die Verletzung der Menschenrechte einer anderen Person zu tun. Wenn wir diese Idee ernst nehmen, erscheint gerade in Zeiten der Rückbesinnung auf Nationalstaaten eine Betonung der Bedeutung Europas und der Vereinten Nationen unabdingbar. Wie schätzen Sie das ein?

Wir müssen an den multilateralen Institutionen, die wir haben, unbedingt festhalten, sie ausbauen und ihnen mehr Rechte geben. Die Europäische Union schließe ich hierbei natürlich mit ein. Häufig sagt man mir, ich solle vorsichtig mit der Betonung der Bedeutung Europas sein, weil die Leute das nicht mögen würden. Ich glaube gerade jetzt müssen wir stärker denn je die „Vereinigten Staaten von Europa“ propagieren und uns von dürftigen Gegenentwürfen der Nationalisten nicht bange machen lassen! In meinen Augen geht es hierbei nicht nur um die Menschenrechte, sondern auch um den Natur- und Umweltschutz. – Die schwindende Demokratiezustimmung, die bei der Kohorte der in den 1970ern und 80ern geborenen Bürger der neoliberalen Staaten, aber auch der Wohlfahrtsstaaten nachgewiesen werden konnte, muss uns allen zu denken geben. Es steht vor allem für die jüngeren Generationen mehr auf dem Spiel als die nächste Weltreise oder der eigene Studienerfolg! Ich habe schon gesagt, dass die politischen Versammlungen derzeit wieder voller, jünger und strittiger werden, aber die Instrumentarien, die wir zum Ausdruck einer politischen Haltung besitzen, müssen überarbeitet werden. Patrizia Nanz und ich haben versucht Anstöße dazu in unserem Buch „Die Konsultative“ niederzuschreiben. Unsere Vorschlag ist eine deliberative Demokratieform, die wir „konsultativ“ nennen. Neben den drei bestehenden Gewalten soll sie eine vierte Gewalt bilden, die ganz dezidiert die Zukunftsinteressen der jungen Generationen in den Blick nimmt. Es soll hierbei eben nicht um die demographische Wende oder die Rentenproblematik gehen, sondern um die Frage wie wir uns unsere offene Gesellschaft im Jahr 2030 oder 2050 im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und politische Demokratie vorstellen.

David van Reybrouck provoziert mit der These, dass Wahlen der eigentliche Grund für die Schädigung der Demokratie seien.

Sein Buch wird mittlerweile oft mit dem unseren in einem Atemzug genannt. Ich bin aber nicht gegen Wahlen! Das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht war und ist eine absolute Errungenschaft. Wahlen sind weiterhin ein Kernelement der Demokratie. Allerdings bin ich gegen eine Fallbeildemokratie, die allein auf die Mehrheit hört. Demokratien müssen dringend durch Deliberation und Konsultation ergänzt werden. Hier jedoch liegt das Problem: Die Flatterhaftigkeit, welche die neuen Medien geschaffen haben, verhindern solche - auf Entschleunigung ausgelegten - politischen Prozesse, die schlussendlich das Ziel einer Beschleunigung derselben haben. Glücklicherweise bricht sich diese Idee der Deliberation und Konsultation mittlerweile auch Bahn. Es gibt einige Kommunen, die ihre Art Politik zu machen mit solchen Elementen ergänzen wollen. Dabei kommt dann auch das von Reybrouck und zuvor schon von Hubertus Buchstein favorisierte Losprinzip zur Geltung.

Sie haben das Netz und seine Auswirkungen auf politische Prozesse mittlerweile mehrfach angesprochen. So genannte Querfront-Medien erhalten immer mehr Zuspruch, gleichzeitig nimmt das Vertrauen in Magazine oder Tageszeitungen, die für eine ausgewogene Berichterstattung stehen, immer mehr ab. Karl Popper sah diese Spaltung in unterschiedliche Stämme als Bedrohung der offenen Gesellschaft. Wie finden wir zu einem neuen Diskurs?

Eine ganz schwierige Frage! – Ich habe mich mit dieser Thematik in letzter Zeit intensiv beschäftigt. Dabei schaue ich mir vor allem an wie „E-Democracy“-Projekte funktionieren. Ich stelle fest, dass diese Minderheitenveranstaltungen sind, die oft im Projektstatus steckenbleiben. Es gibt Projekte, die soziale Netzwerke aufklären wollen. Die Idee dabei ist es, uns durch technische Veränderungen immer wieder auch mit anderen Meinungen zu konfrontieren. Das Diskursive soll hierbei also gestärkt werden. Einen anderen Weg gehen die „Bundeszentrale für politische Bildung“ sowie der öffentliche Rundfunk. Sie experimentieren mit dem von den Piraten genutzten „Liquid Democracy“-Format. Ob all das funktioniert, weiß ich nicht, aber wir sollten weiter damit experimentieren. Dennoch: Am wichtigsten erscheint es mir, eine deutliche Steigerung öffentlicher Veranstaltungen einzufordern. Es braucht mehr Graswurzel-Demokratie über die man sich am Arbeitsplatz, in der Universität oder im Freundeskreis austauschen kann. Es braucht Menschen die sagen: „Wir reden seit einer Stunde über unsere Urlaube oder gesunde Ernährung. Lasst uns zum Wesentlichen kommen!“. Es bringt nichts, zu lamentieren oder zu resignieren. – Ich werde meiner 13-jährigen Tochter oder meinen Studenten niemals gegenübertreten und sagen: „Wir hatten es gut und ihr seid jetzt schlecht dran! Sorry – da kann man nichts machen.“ Das kann und will ich mir nicht erlauben! Wir müssen das Element der Generationengerechtigkeit ins Zentrum unseres politischen Denkens rücken. Und was die Printmedien betrifft – die US-Qualitätszeitungen verzeichnen in der Ära Trump großen Zuspruch!

Derzeit grassiert ein starker Anti-Elitarismus, der sich gegen eine unbestimmte Anzahl von Gruppen wie Politiker, Journalisten oder Intellektuelle richtet. Dieser beherrscht nicht nur Diskussionen der rechten Milieus sondern zunehmend auch bürgerliche oder linke Kräfte. Wie begegnet man diesem?

Zunächst indem wir alle aufhören, den populistischen Unsinn nachzuplappern. Ich kann mittlerweile zwischen Jean-Luc Mélenchon, dem Vorsitzenden der Linkspartei in Frankreich und Marine Le Pen kaum noch einen Unterschied erkennen. Dasselbe gilt für all die russophilen Putin-Versteher, die in Deutschland umherlaufen und nicht wahrnehmen, wie dort Freiheit mit Füßen getreten wird. –  Es müsste sich eine Generation der Mitte Gehör verschaffen, die sozialstrukturell und politisch-weltanschaulich in der Mitte steht. Jeder, der zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt ist und sich politisch wenig artikuliert, müsste auf Basis einer Graswurzel-Demokratie, die global denkt, den Mund auftun! – Ein Beispiel: Vor der Wahl war ich in Amerika und habe mit vielen Menschen gesprochen, die zu mir sagen: „Ich kann Hillary Clinton nicht wählen“. Wer so wenig Durchblick hat, dass er nicht erkennt, dass Hillary Clinton die erheblich bessere Wahl gewesen wäre, dem ist nicht zu helfen. Hier zeigt sich eine anti-politische Einstellung. – Die linken Parteien in Deutschland spiegeln das in einer Form der frustrierten Dauer-Desillusionierung. Das ist grauenhaft unpolitisch! – Unterstützt wird das Ganze durch den Generalangriff von Google et al. auf Stützen des europäischen Geisteslebens, wozu vor allem auch Qualitätsmedien zählen. Dummerweise bekommen das viele Nutzer der sozialen Medien überhaupt nicht mit. – Die 68er hatten eine Anti-Springer-Kampagne. Wo ist die Anti-Google- oder Anti-Facebook-Kampagne? – Ich glaube, dass dort wesentlich mehr passieren müsste. Allerdings heiße ich nicht Herbert Marcuse und bin der Apo-Vater der 89er-Generation. Das muss die schon selbst organisieren.

Abschließend: 2017 ist Bundestagswahl. Wie überzeugt man die Bürger davon, an die Urne zu gehen und anti-demokratische Parteien  nicht zu wählen?

Das Spektrum schwankender Wähler, die nicht unbedingt aus tiefer Überzeugung Parteien wie die AfD wählen, muss durch eine klare Programmatik, überzeugende Personen und eine optimistische Zukuftszugewandtheit von einer alternativen Politik überzeugt werden. Leider sehe ich eine solche bei Rot-Rot-Grün bisher zu wenig, das ist vor allem Koalitionsgeplänkel. Diese drei Parteien müssen aufwachen! Ich glaube, dass sie noch nicht kapiert haben, was auf dem Spiel steht. - Der größte Fehler den CDU/CSU machen könnten, wäre es, sich den Rechten anzudienen! Wenn die Union symbolische Politik mit dem Burka-Verbot oder dem Verbot doppelter Staatsangehörigkeit macht, sammelt sie Stimmen für die AfD. Ich muss dazu sagen, dass ich weder ein Freund der Burka bin, noch per se für eine doppelte Staatsbürgerschaft eintrete. Mir geht es darum zu verhindern, dass Koalitionen zwischen der AfD  - selbst wenn sie oberflächlich weniger radikal daherkommt - und der Union möglich werden! Wenn die CDU diesen Weg geht, droht ihr das Schicksal der SPD, die mittlerweile in drei Teile zerfallen ist. Martin Schulz ist bisher ein empty signifier, da muss programmatisch nachgelegt werden. Sonst beruht sein möglicher Erfolg auf dem Schrumpfen der Grünen, ein Pyrrhussieg...