02 Oktober 2018

Essay: Aus unserer Schuld muss die Kraft des Guten erwachsen.

Nicht erst die Ereignisse in Chemnitz Anfang September haben gezeigt, dass die Demokratie derzeit einer deutlichen Verteidigung bedarf. Dieser Essay entstand 2017 und fordert von allen Demokraten radikale Offenheit, Dialog, echte Gespräche, aber auch Hoffnung und Zuversicht. Als Deutsche haben wir die Verantwortung uns der Schuld, die wir im 2. Weltkrieg auf uns geladen haben, jeden Tag bewusst zu bleiben und daraus die Kraft des Guten erwachsen zu lassen, für liberale Werte zu werben und danach zu streben.

Der öffentliche Diskurs verwässert in unseren, sich immer diffiziler ausbildenden, digitalen Blasen. Er schrumpft zusammen auf ein paar kümmerliche Wortgefechte - mit blindwütiger Boshaftigkeit geführt -, wenn eine Blase auf die andere trifft. So beschäftigt sind wir mit uns selbst, mit bedeutungslosen Streitereien oder Selbstbestätigung auf unseren digitalen Inseln, dass wir höchsten kurz irritiert aufschauen, wenn aggressive Töne angeschlagen werden. – Sinnbildlich für die Düsternis stehen derzeit rechtsextreme Politiker wie Björn Höcke (AfD). Dieser warf Richard von Weizsäcker – dem Bundespräsidenten, der eine der wichtigsten Reden zur Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 gehalten hat – vor sich gegen sein Volk gestellt zu haben und schmähte auch den im Januar 2017 verstorbenen Roman Herzog sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel. Am Schwersten jedoch wiegt, dass Höcke bei seiner Rede vom 17. Januar 2017 in Dresden das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete und den Jubel einer Horde aufgepeitschter Nationalisten erntete. Björn Höckes menschenfeindlicher Gesinnung müssen wir radikale Offenheit entgegensetzen! Es bedarf gelebter Toleranz für die vielfältigen Lebensentwürfe, Familienbilder und Minderheiten in Deutschland.     
Gegen die Hasstiraden der Rechtspopulisten, ihre menschenverachtenden, in ihrer Grundüberzeugung anti-demokratischen Parolen, müssen wir den Dialog setzen. Gerade in Zeiten der – alle sozialen Geflechte wandelnden Digitalisierung – sind echte Gespräche außerhalb der digitalen Sphäre ein probates Mittel gegen Stammesbildungen (Tribalisierung) innerhalb einer Gesellschaft. Letztere rüttelt – wie die NZZ 2016 beschrieb – an Karl Poppers Idealbild einer offenen und liberalen Gesellschaft, die auf universellen Normen gründet. Miteinander in den Dialog zu treten ist kraftraubend und ernüchternd. Oftmals kosten Gespräche Mut und Kraft und Zeit. Doch wenn alles ausgesprochen ist, wenn der Zorn verraucht-, wenn die Standpunkte einander deutlich gemacht wurden, können gemeinsam Lösungsansätze entwickelt werden.           
Den Ängsten der Menschen müssen wir positive Emotionen – Hoffnung und Zuversicht – entgegensetzen. Wir können unsere positiven Emotionen auf Reformen gründen, die durchdrungen sind von den Idealen liberaler Demokratien. Sicherheit in Form von einem Mehr an Überwachungskameras oder Geheimdiensten, wird diese Ängste nicht zerstreuen. Die Rhetorik der Rechten zu übernehmen, wird ebenfalls nicht helfen. Rassismus und Hass gehören benannt und angeprangert. Jedem Menschen dieser Welt kommen die gleichen Rechte zu. Wer diese mit Füßen tritt, gehört bestraft.         
Die Rechtspopulisten versuchen die Europäische Union, den Gedanken an ein geeintes Europa niederzubrüllen. Wir dürfen nicht stumm bleiben! Gerade jetzt ist die Zeit gekommen für eine Europäische Verfassung einzutreten sowie den Menschen bewusst zu machen, welche Vorteile eine europäische Identität gegenüber einer nationalen hat.  
Deutschland kommt in diesen oben skizzierten Punkten eine entscheidende Rolle zu. Nicht als europäischer „Hegemon wider Willen“, sondern als das Land, das wie kein anderes auf der Welt Schuld auf sich geladen hat. – Das Andenken an all jene im Nationalsozialismus Verfolgten und Ermordeten ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Aus unserer Schuld, die uns an jedem Tag bewusst bleiben muss, erwächst die Kraft für das Gute zu werben, danach zu streben; Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, Demokratie und Freundschaft unter all unseren Brüdern und Schwestern – allen Menschen dieser Erde – als unsere höchsten Güter anzuerkennen und sie gegen jede Art von Anfeindung zu schützen.           
Der – wie Roman Herzog im Januar 2017 verstorbene – polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman hat in einem seiner letzten Texte darauf aufmerksam gemacht, dass freie und prosperierende Gesellschaften nur durch das Zusammentreffen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als drei sich gegenseitig ermöglichende Elemente entstehen konnten. Wenn unser Ziel eine ebensolche Gesellschaft ist, müssen wir für all die oben beschriebenen Dinge streiten, Einsatz zeigen und neue Formen bürgerlichen Engagements entwickeln. Es bedarf neuer Formen der gesellschaftlichen Teilhabe – wie sie zum Beispiel Claus Leggewie und Patrizia Nanz in ihrem Buch „Die Konsultative“ vorschlagen -, aber auch der Wiederentdeckung des Lobes für idealistische Politikerinnen und Politiker sowie Vertrauen in public intellectuals, Journalistinnen und Journalisten. Bürgerliches Engagement gepaart mit Lob und Vertrauen können wichtige Triebkräfte für eine neue Ära der Demokratie sein (siehe kulturlog-Artikel vom 01. Oktober 2018).          
Unser aller Kraft liegt in der Macht des Wortes. Wir müssen unsere Stimmen erheben und miteinander für eine offene Gesellschaft streiten, deren Grenzen nicht die eines einzelnen Landes sind.     
Im Englischen gibt es ein schönes Sprichwort: Every cloud has a silver lining. Diesen Hoffnungsschimmer auch in einem heraufziehenden Sturm zu erkennen und nach dieser Hoffnung zu handeln, ist unser aller Verantwortung. 




01 Oktober 2018

Essay: Wir leben nicht in einer Service-Demokratie. – Gedanken über staatsbürgerliche Pflichten.

Demokratie erfordert ein kontinuierliches Bemühen um sie. Die weltweit erstarkenden populistischen Bewegungen sind zum Teil auch Ausdruck eines falschen Demokratieverständnisses. Nicht nur Politiker haben in einer repräsentativen Demokratie die Pflicht sie zu pflegen; auch die Bürger sind hierbei gefragt. 

Diesem Essay geht es um eine Annäherung an den Begriff der staatsbürgerlichen Pflichten und die Rolle der Bürger in einer repräsentativen Demokratie. 

Ganz allgemein erfordert Demokratie ein stetiges Bemühen um sie. Sie kann sich nur fortentwickeln, wenn alle Bürger eines Staates (und auch all jene, die nicht die Staatsangehörigkeit des entsprechenden Landes teilen, aber in ihm leben) diese Aufgabe ebenso wahrnehmen wie Politiker. 

Der Gedanke es sei allein Aufgabe der Politik (und noch konkreter der jeweiligen Regierung) die unterschiedlich gelagerten Probleme eines Landes zu lösen, den Bürgern ihre Sorgen abzunehmen oder ihnen - wie auch immer geartete - Wohltaten angedeihen zu lassen, zeugt von einem verqueren Staatsverständnis. Wir leben nicht in einer Service-Demokratie. Der oben genannte Anspruch an alle Bürger erwächst aus der Tatsache, dass in einer Demokratie das Volk der Souverän ist.
Bürger müssen daher bereit sein Verantwortung für die Handlungen ihrer jeweiligen Regierungen im In- und Ausland mit zu übernehmen. Der in Yale lehrende Philosoph Thomas Pogge sieht in seinem 2011 erschienenen Text "Are We Violating the Human Rights of the World's Poor?" hierbei alle Bürger in der Pflicht. Ausgenommen sind bei ihm Kinder und Menschen mit schweren mentalen Behinderungen. Zwar bezieht sich Pogges Text auf das globale Problem der Weltarmut, jedoch erscheint sein Verständnis von Verantwortung, welches Bürgerinnen und Bürger (in Industrieländern) für die von ihren Regierungen betriebene Politik haben, auch auf andere Kontexte übertragbar zu sein. Um eines deutlich zu sagen: Diese (Mit-)Verantwortung entlässt Politiker keineswegs aus der Pflicht zu handeln. Viel eher geht es darum als Staatsbürger Möglichkeiten des aktiven Austauschs mit Politikern wahrzunehmen. Sei es in Form von Briefen an den jeweiligen Abgeordneten, Teilnahmen an Gesprächskreisen oder Veranstaltungen, als Teil einer Bürgerinitiative oder als Demonstrant für oder gegen etwas.

Der deutsche Politikwissenschaftler Christian Welzel schrieb 2009 in einem Buchkapitel über Demokratisierung: "What matters is not whether people support democracy but for what reasons they do so (...). Only when people support democracy for the freedoms that define it, are they ready to mount pressure on elites to introduce these freedoms when they are denied, to defend them when they are challenged, or to advance them when they stagnate".
Die Rolle des Staatsbürgers ist hierbei eine aktive. Er (oder sie) soll sich für die durch Demokratien zugesicherten Freiheiten einsetzen, sie verteidigen oder erweitern.

Doch wie sieht diese aktive Rolle eines Staatsbürgers konkret aus? - Ich sehe unsere Rolle (bitte verzeihen Sie mir den auf diesem Blog selten vollzogenen Wechsel in die erste Person Singular) darin Politik um neue Perspektiven zu bereichern. Diese Bereicherung kann konkrete Politik-Vorschläge beinhalten (z.B. die Einführung eines kostenlosen Dauertickets für den ÖPNV und/oder die Fernbahnen und -busse bei freiwilliger Abgabe seines Führerscheins) oder das Bewusstsein darüber, dass man sich in seiner je eigenen Rolle als Facharbeiter, Krankenpfleger, Universitätsprofessor oder Busfahrer usf. immer auch als Wissensvermittler und Dialogpartner für Anders- und Gleichdenkende sieht.

Jeder Mensch hat eine Fähigkeit, die ihn auszeichnet. Der aktive Staatsbürger nutzt sein Wissen, um seine Mitmenschen zu inspirieren oder zum Nachdenken anzuregen. Er überschätzt sich nicht, mischt sich aber dennoch aktiv ein. Es geht dabei nicht (nur) darum große Politik zu machen. Engagement kann im kleinen Rahmen zum Gelingen einer Nachbarschaft, eines Dorfes oder eines Stadtteils beitragen.

Von entscheidender Bedeutung sind drei Qualitäten: Zuhören, Handeln und Akzeptieren. Alle Meinungen, die vom demokratischen Meinungsspektrum abgedeckt werden, sollten zunächst Gehör finden. Auf Basis einer kritischen Auseinandersetzung sollte anschließend eine Haltung formuliert werden, die in eine Handlung überführt werden kann. Ist die Handlung dereinst ausgeführt gilt es, dass auch Menschen, die eine andere Handlung bevorzugt hätten die Entscheidung akzeptieren. Zumindest so lange bis ein neues (und besseres) Argument zu einem neuen Prozess des Aushandelns über ein bestimmtes Thema führt.




04 August 2018

"Meine Vorstöße sind anti-nostalgisch". – Robert Pfaller im Interview.

Robert Pfaller, Philosophie-Professor an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz, kritisiert in seinem aktuellen Buch "Erwachsenensprache" den Neoliberalismus von links. Ein Gespräch über Bürgerlichkeit, politische Korrektheit, den Gender-Diskurs und unsere nostalgische Gegenwart. 

Tobias Lentzler: Herr Professor Pfaller, Genuss spielt in Ihren Werken eine zentrale Rolle. Warum? – Was macht diesen Begriff so zentral für Ihr Denken?

Robert Pfaller: An der Genussfähigkeit - also daran, ob Menschen sich gelegentlich die Frage stellen, wofür es sich zu leben lohnt - entscheidet sich, ob sie bereit sind, politisch zu kämpfen oder nicht. So, wie Bertolt Brechts Pariser Kommunarden in ihrer Resolution sagen: "In Erwägung, dass ihr uns nun eben/ mit Gewehren und Kanonen droht/ so haben wir beschlossen, von nun an/ schlechtes Leben mehr zu fürchten als den Tod."  
Wenn die Leute hingegen selbst verlernt haben, zu geniessen oder zufrieden zu sein, fangen sie auch an, anderen deren vermeintliches Glück zu neiden. Die derzeitige, für die Postmoderne typische Diffamierung vieler Glücksformen (wie Trinken, Rauchen, fett Essen, Autofahren, Flirten, Sex etc.) führt also zur politischen Wehrlosigkeit und zur neidischen Entsolidarisierung in der Gesellschaft.

Tobias Lentzler: Ein weiterer wichtiger Aspekt Ihres Denkens ist – soweit ich das feststellen kann – Ihre Überzeugung, dass das Private und das Öffentliche strikt voneinander zu trennen seien. Was geht verloren, wenn diese Begrifflichkeiten an Trennschärfe verlieren?

Robert Pfaller: Wie Richard Sennett bereits 1977 richtig erkannte, wird in westlichen Gesellschaften seit einigen Jahrzehnten die Errungenschaft der öffentlichen Rolle (des "Public Man", jeglichen Geschlechts) zugunsten der privaten Person aufgelöst. Alle kommen nun mit ihren persönlichen Empfindlichkeiten und Marotten in die Öffentlichkeit und verlangen nach "Anerkennung". Dadurch aber geht das Entscheidende verloren, was uns zu politischen Bürgerinnen und Bürgern macht. Als solche handeln wir, wenn wir unsere persönlichen Agenden ein Stück weit im Hintergrund halten - was schon bei elementaren Verhaltensweisen des öffentlichen Raumes wie zum Beispiel der Höflichkeit beginnt: auf die Frage, wie es einem geht, antwortet man ja bezeichnenderweise eben nicht mit dem eigenen Blutbild. Nur wenn wir das fertigbringen - was unsere Eltern- oder Großelterngeneration übrigens noch sehr gut beherrschte -, sind wir fähig, das Allgemeine in uns zum Vorschein zu bringen. Und nur dann sind wir in der Lage, uns mit anderen, ungeachtet von deren kultureller, sexueller, ethnischer oder religiöser Identität, zu verständigen, unsere gemeinsamen Interessen zu erkennen und uns mit ihnen zum politischen Handeln zusammenzuschließen. Die postmoderne Propaganda der Empfindlichkeit und der sogenannten "Sensibilisierung" hingegen ist eine Waffe der Zerstückelung der Gesellschaft, der Ablenkung auf unbedeutende Kleinigkeiten und der politischen Lähmung.

Tobias Lentzler: Ihr jüngstes Buch „Erwachsenensprache“ fällt in eine Zeit, da in vielen Ländern Europas und in den USA Kunstwerke kritisch hinterfragt, abgehängt oder gar übermalt werden. Wie kann man sich diesem Umstand philosophisch nähern?

Robert Pfaller: Überspitzt würde ich sagen: daran zeigt sich, dass man kein Muslim zu sein braucht, um sich wie ein Taliban aufzuführen. Die postmoderne Identitätspolitik mit ihrer Propaganda der Empfindlichkeiten erweist sich hier als Ideologie des Neoliberalismus: sie bedient das neoliberale Interesse der Privatisierung des öffentlichen Raumes; und seiner Unterwerfung unter persönliche Ansprüche. 

Tobias Lentzler: Welche möglichen Probleme entstehen aus der Art wie oben beschriebene Gesellschaften sich derzeit mit Kunst und Kultur auseinandersetzen?

Robert Pfaller: Der (oder die) vermeintlich Empfindlichste soll heute zum Maßstab dessen werden, was in der Öffentlichkeit vorkommen darf. Das alte Prinzip bürgerlicher Öffentlichkeit (im Sinn von citoyenneté) hingegen besagte, dass man im öffentlichen Raum Dinge und Meinungen bis zu einem gewissen Grad dulden muss, auch wenn sie einem nicht zur Gänze passen. Der Widerstreit von entgegengesetzten Ansichten und Interessen gehört ja zur Demokratie. Einen Film, den man nicht mag, muss man sich nicht ansehen; und eine Bar, in der geraucht wird oder in der Musik gespielt wird, die einem zuwider ist, braucht man ja nicht zu besuchen. Dieses Prinzip der maßvollen Zumutbarkeit widriger Dinge im öffentlichen Raum würde ich auch als Erwachsenheit bezeichnen. Diejenigen hingegen, die im Namen ihrer Empfindlichkeiten heute ständig nach Polizei und Zensur rufen, führen sich auf wie Kleinkinder. Dass Erwachsenheit heute nicht mehr von jedem Erwachsenen mit Selbstverständlichkeit erwartet werden kann - genau das macht meines Erachtens das Neoliberale an der Erosion des öffentlichen Raumes aus.

Tobias Lentzler: „Erwachsenensprache“ geißelt mit markigen Worten den Neoliberalismus. Was lässt Sie vermuten, dass er die Triebfeder der heftig diskutierten Fragen nach politischer Korrektheit oder rücksichtsvollem Sprechen ist?

Robert Pfaller: Die von vielen scheinbar emanzipatorischen Akteuren vorangetriebene Infantilisierung erscheint mir als eine sehr nützliche Stütze des Neoliberalismus. Die Leute kümmern sich nur noch um Kleinkram und symbolische Kompensationen, während in der Gesellschaft, wie zum Beispiel an der Banken- und Finanzkrise 2008 deutlich wurde, eine massive Umverteilung des Reichtums zugunsten der Reichsten stattfindet, gegen die kaum jemand mehr etwas unternimmt. Die Philosophin Nancy Fraser hat die Empfindlichkeitspropaganda der political correctness des sensiblen Sprechens darum auch als "progressiven Neoliberalismus" bezeichnet.

Tobias Lentzler: Wie erklären Sie sich, dass die Forderungen nach Binnen-I, Gendersternchen o.ä. öffentlich derzeit so stark – und oft auch recht einseitig – rezipiert werden? Inwieweit lassen diese Fragen Ihrer Meinung nach eine differenzierte Auseinandersetzung zu?
 
Robert Pfaller: Wie der Philosoph Spinoza bemerkte: Was die Menschen aus Vernunft erkennen, das verteidigen sie auch mit Vernunft. Was sie hingegen aus Leidenschaft erkennen, das verteidigen sie auch mit Leidenschaft. Bezeichnend erscheint mir für unsere gegenwärtige Situation, dass Massnahmen mit umso größerer Heftigkeit verteidigt werden, je weniger sie den betroffenen Gruppen wirklich nützen. Von Binnen-Is oder Gendersternchen kann sich niemand etwas kaufen.
Seit etwa 1980 haben die Sozialdemokratien und Mitte-Links-Parteien in den westlichen Ländern kaum mehr etwas gegen die wachsende ökonomische Ungleichheit unternommen. Gegen die Vorstöße von Thatcher und Reagan waren sie noch ohnmächtiger als die Bevölkerungen, die ja immerhin das eine oder andere Mal versucht haben, wieder eine Alternative an die Macht zu wählen. Aufgrund ihrer Ohnmacht haben eben diese Mitte-Links-Parteien ihre Aufmerksamkeit auf die Kultur und den symbolischen Raum verlagert - daher zum Beispiel das Augenmerk auf die Sprache. Aber wenn man Probleme, die auf der Ebene der Ökonomie und der Sozialpolitik gelöst werden müssen, in die Kultur verlagert, dann löst man diese Probleme nicht nur nicht; man schafft sogar zusätzliche neue. Man macht dann im Namen vermeintlicher Emanzipation auch noch reaktionäre Kulturpolitik, zum Beispiel durch verschärfte Zensur.

Tobias Lentzler: Viel ist derzeit von „Filterblasen“ und dem Verlust einer zivilisierten Diskussionskultur die Rede. Wie könnten wir Letztere wieder fördern?

Robert Pfaller: Indem wir uns auf der Ebene der Ethik wieder zunehmend wie erwachsene, mündige politische Bürgerinnen und Bürger verhalten, die in der Lage sind, ihre gemeinsamen Interessen zu erkennen und sie handelnd wahrzunehmen. Und indem wir auf der Ebene der Politik beginnen, Probleme ungleicher Einkommen als ökonomische Probleme, und nicht als kulturelle oder sprachliche, zu behandeln.

Tobias Lentzler: In Ihrem Buch „Erwachsenensprache“ plädieren Sie für das Prinzip der Bürgerlichkeit, das persönliche Befindlichkeiten in der Öffentlichkeit zurückstellt. Welche Fähigkeiten müssen gestärkt werden, damit Bürgerlichkeit wieder in den Fokus unseres öffentlichen Handelns rücken kann?

Robert Pfaller: Man muss die Leute, anstatt sie in ihren vermeintlichen Identitäten und den dazugehörigen Empfindlichkeiten zu bestärken, wieder daran erinnern, dass sie als Erwachsene durchaus in der Lage sind, einiges auszuhalten - ja sogar es als Bereicherung zu nutzen. Von manchem, was mir gegen den Strich geht, kann ich bei näherer Betrachtung schließlich auch etwas lernen.

Tobias Lentzler: An vielen Stellen in „Erwachsenensprache“ plädieren Sie für eine offene Gesellschaft, die „ohne Inklusion von identitären oder gemeinschaftlichen Gruppen“ politische und kulturelle Teilhabe ermöglicht. Skizzieren Sie bitte: Welche Schritte müssen wir unternehmen, um diesen Gesellschaftstypus zu erreichen?

Robert Pfaller: Gerade den heute um das Sprechen so sehr Besorgten scheint eines nicht aufzufallen: eine inklusive Gesellschaft ist, genauso wie eine exklusive, eine geschlossene Gesellschaft. Es geht doch nicht darum, alle einzuschließen, sondern darum, einen offenen Raum herzustellen, zu dem alle, ungeachtet ihrer Herkünfte oder Besonderheiten, Zugang haben. Dazu müssen sie auch nicht dauernd drinnen sein - wie das der irreführende Begriff der "Partizipation" unterstellt hat. Gerade am aktuellen Kapitalismus kann man lernen, dass oft diejenigen, die nicht aktiv mitmachen, von manchen Prozessen am meisten haben. Wenn man an dem Wort "Teilhabe" festhalten will, dann sollte man es darum nicht mit "Partizipation" übersetzen, sondern vielleicht eher mit "shareholding".

Tobias Lentzler: Herr Prof. Pfaller, viele Ihrer Vorschläge erscheinen lohnenswert, allein sie wirken auch weit entfernt davon derzeit gesellschaftlich zu verfangen. Würden Sie sich als Nostalgiker bezeichnen? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? 

Robert Pfaller: Ich glaube, die Gegenwartskultur ist zutiefst nostalgisch. Das kann man zum Beispiel am Retro-Design sehen, mit dem die Industrie den sehnsüchtigen Wunsch der Leute nach bestimmten, jüngeren Vergangenheiten bedient: etwa mit dem Mini oder dem Fiat Cinquecento. Nun kann man sich fragen, wonach sehnen sich die Leute zurück? - Und eines wird dabei sofort klar: sie sehnen sich nach einer Vergangenheit, die ihrerseits keine Sehnsucht nach Vergangenheit hatte. In den 60er und 70er Jahren gab es kein Retrodesign. Und zwar deshalb, weil die Leute damals begründete Hoffnung hatten, dass es ihnen in der Zukunft besser gehen würde. Wir sehnen uns heute also zurück in eine Vergangenheit, die anders als wir, noch Hoffnung auf Zukunft hatte. Da ich versuche, mit meinen bescheidenen philosophischen Mitteln eine Ethik und eine Politik zu befördern, die den Menschen wieder Aussicht auf eine bessere Zukunft verschafft (so, wie es derzeit, in nicht unbedeutendem Maß die Bewegungen rund um Bernie Sanders und Jeremy Corbyn tun), würde ich meinen, dass meine Vorstöße anti-nostalgisch sind.

Tobias Lentzler: Ijoma Mangold hat in der „Zeit“ 2016 vom „Verlust der Mitte“ gesprochen. Von links käme „Hypermoral“, von rechts „blanke Gewalt“. Begreifen Sie Ihre Arbeit als ein Plädoyer für eine neue Form von Bürgerlichkeit aus der Mitte der Gesellschaft? Wenn ja, warum? Wenn nein, wofür plädieren Ihre Arbeiten dann?


Robert Pfaller: Sie dürfen nicht übersehen, dass ich die aktuelle Pseudolinke von links kritisiere. Gegen eine kulturelle Symbolpolitik, die letztlich den Neoliberalismus stützt, fordere ich eine ökonomische Politik, die ihn bekämpft. Ein Einsatz und Terrain dieses Kampfes ist aber tatsächlich die Frage, ob wir in Zukunft noch so etwas wie eine bürgerliche Öffentlichkeit haben werden, oder ob es den echauffierten "Kulturtaliban" westlicher Prägung gelingt, diese zur Gänze zu zerstören und ein Regime des "betreuten Denkens" einzurichten, wie die Philosophin Maria-Sibylla Lotter dies treffend genannt hat.  Das Wort "bürgerlich" bezeichnet hier den citoyen - eine Anrede, mit der auch Karl Marx seine Freunde und Genossen bedachte -, und nicht den bourgeois. Darum sehe ich meine linke Position in einer Allianz mit jenen bürgerlichen, liberalen Kräften, die ebenfalls den öffentlichen Raum von der Übernahme durch gutmeinende Privatinteressen schützen wollen. Bertolt Brechts Satz "der Kommunismus ist das Mittlere" scheint mir hierin eine mögliche Anwendung zu finden.

Tobias Lentzler: Wie gehen Sie nach dem Erfolg Ihrer Bücher mit möglicher Kritik von weit links bzw. Lob von weit rechts um? – Wie nah sind sich diese Extrem-Positionen argumentativ?

Robert Pfaller: Lob von rechts bekomme ich kaum jemals; und Kritik kommt nie von weit links, sondern meist von einer bourgeoisen, pseudolinken Mitte. Das ist nicht überraschend. Aus meiner Sicht sind die Kulturlinke und die extreme Rechte derzeit Komplizen. Denn alles, was wirklich von links kommt, kann die Kulturlinke bequem als rechts diffamieren. Und die Rechte profitiert davon, dass der Großteil der unteren Mittelschichten sich von der pseudolinken Kulturpolitik übergangen fühlt. Weil Empfindlichkeitspolitiken, Sprachorthodoxie, Museumszensur und ähnliche Maßnahmen immer nur Distinktionskapital für die Eliten erzeugen, wählen die durch diese Distinktion Deklassierten eben derzeit zornig rechts. Das könnte sich bald aber auch wieder ändern.

Tobias Lentzler: Wie sollten Ihrer Meinung nach Universitäten heute aussehen, damit Sie zum Denken anregen und öffentliche Debatten befruchten?

Robert Pfaller: Offen und gegen alle repressiven Empfindlichkeiten am Ideal der Erwachsenheit orientiert - so, wie das der Dekan der University of Chicago, John Ellison, einmal mit bewundernswerter Klarheit festgehalten hat: wir geben keine "trigger warnings" aus; wir laden eingeladene Vortragende nicht deshalb wieder aus, weil sie unbequeme Ansichten vertreten, und wir kreieren keine "safe spaces". Dieses Ideal muss auch für die Gesellschaft als ganze gelten: eine emanzipierte Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass alle Identitäten "sichtbar", und alle Empfindlichkeiten durch Zensur berücksichtigt sind. Die völlige Sichtbarkeit aller Gruppen hatten wir doch schon einmal - die haben die Nazis perfekt vorexerziert. Und was die, die es gut meinen, durch Zensur und Zerstörung anrichten, kann man zum Beispiel daran sehen, was die islamistischen Fanatiker des Daesh vor kurzem mit Timbouktou, dieser wunderbaren Stätte islamischer Gelehrsamkeit, gemacht haben. Eine egalitäre Gesellschaft hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass alle unbesehen ihrer Identität - entsprechend dem Ideal der "blinden Justitia" - Zugang zum öffentlichen Raum haben.

Tobias Lentzler: Zuletzt: Sie sind Professor an der Kunstuniversität in Linz. Welchen Eindruck macht der (akademische) Nachwuchs auf Sie? Wie blicken Sie auf Basis Ihrer Beobachtungen in die Zukunft? 

Robert Pfaller: Linz ist eine Arbeiterstadt. Der österreichische Bürgerkrieg hat am 11. Februar 1934 durch den Widerstand unbeugsamer Schutzbündler gegen die katholisch-faschistische Dollfuß-Diktatur hier seinen Ausgang genommen. Diese Tradition ist auch heute noch spürbar. Auch wenn freilich ein großer Teil der Studierenden nicht aus Linz kommt, scheint mir unter ihnen doch eine bestimmte politisierte Vernunft als Grundstimmung zu herrschen, die sie deutlich unempfänglicher macht für modische pseudolinke Strömungen, wie sie die bürgerlicheren Studierenden anderer Kunstuniversitäten, wie das Kunstfeld überhaupt, prägen. Aus dieser mainstream-kritischen Haltung gehen immer wieder grandiose Arbeiten hervor, wie zuletzt zum Beispiel die aufblasbare Karl-Marx-Monumentalskulptur von Hannes Langeder. Die intellektuellen und politischen Ressourcen sind also je nach Standort unterschiedlich. Ein großer Teil dessen allerdings, was die Universitäten in Europa zu Brutstätten eines kritischen Intellektualismus machen konnte, scheint mir heute massiv gefährdet durch die Reformen seit den 1990er-Jahren - also die sogenannte Bologna-Reform sowie die damit zusammenhängende Privatisierung der Universitäten (in Österreich "Vollrechtsfähigkeit" genannt) und die entsprechende Ökonomisierung der Bildung. Universitäten sind dadurch weitgehend zu stumpfen Ausbildungs- und Lernanstalten verkommen. Man kann den Studierenden kaum einen Vorwurf machen, wenn sie sich entsprechend verhalten. In kleinen Nischen aber kann man, wenn man Glück hat, sowohl als Student wie als Lehrender, noch vernünftig arbeiten. Von solchen Nischen kann dann auch mitunter ein kräftiger politischer Impuls ausgehen - wie zuletzt bei dem in seinem Umfang wie in seiner Qualität äußerst beachtlichen Streik im Jahr 2009, der, von einer Wiener Kunstakademie ausgehend, sich quer durch Europa zog und an dem sich Millionen von Studierenden wie Lehrenden beteiligten. Es verhält sich hier wie überall in der Gesellschaft: alle Tiger, die man vorübergehend ablenkt oder sediert, könnten eines Tages zorniger erwachen.




21 Mai 2018

Beobachtungen: Das Uneindeutige ist ein Opfer unserer Gegenwart.

Subtilität ist ein potenzielles Opfer einer Kultur der Eindeutigkeit, die sich in Bewertungsschemata wie "like"/"dislike" manifestiert. Über kurz oder lang steht zu befürchten, dass sich dadurch Kreativität und Tiefe verlieren könnten. Denn eine Kultur, die Urteile über kulturelle Lebensäußerungen nur anhand von zwei entgegengesetzten Punkten eines Spektrums bewerten kann, wird der Komplexität menschlichen Lebens nicht gerecht. 

Unsere digitale Gegenwart ist alles andere als subtil. Ständig werden wir dazu aufgefordert Produkte zu bewerten oder gar Menschen. "Like" und "Dislike", Rankings und Noten gewinnen zunehmend an Bedeutung. Der Soziologe Steffen Mau hat das 2017 in seinem Buch "Das Metrische Wir" als "Quantifizierung des Sozialen" bezeichnet und davor gewarnt, dass die zunehmende Vermessung des Lebens auch zu einer "Spaltbarkeit des Sozialen" führe. 
Eine künstlich erzeugte Vergleichbarkeit all unserer sozialen (Lebens-)Äußerungen scheint in der Tat Maßstäbe zu verschieben. Diese Aussage ist zunächst nicht normativ gemeint. Sie soll lediglich dafür sensibilisieren, mögliche Veränderungen wahrnehmen zu können.

Verstehen wir Kultur im weitesten Sinne als die (geistigen) Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, so betreffen Veränderungen des Sozialen selbstverständlich auch die Kultur. Bewertungen in Form von Noten, Punkten, Likes oder Sternchen stellen an der Oberfläche Eindeutigkeit her. Sie lassen es zu, Restaurants, Hotels oder Influencer, aber auch kulturelle Erzeugnisse wie Bücher, Filme, Tonträger in eine Reihenfolge zu bringen. 
Diese Rankings erleichtern auf den ersten Blick das Leben. Sie zeigen an, welche Gaststätten man lieber meiden, um welche Herbergen man besser einen Bogen machen sollte. Auch lässt sich an ihnen ablesen, welche Youtuber oder Musikerinnen gerade hoch im Kurs stehen und augenscheinlich Beachtung verdient haben. 
Bewertungen provozieren eine Kultur der Eindeutigkeit, vielleicht gar der Konformität. Trends nicht aufzunehmen, wird zum Luxus. Sich Bewertungen zu verweigern, wird fast unmöglich. Letztere werden gar zu einer Waffe, die Enttäuschte gegen Hotelbetreiber, Restaurantbesitzer oder Kulturschaffende einsetzen können. Sind die schlechten Noten für einen Gasthof zum Beispiel Ausdruck einer persönlichen Kränkung oder einer ernsthaften Warnung vor ungenießbaren Speisen? Oder: Ist die miserable Bewertung eines neuen Buches auf die stümperhafte Komposition der Charaktere oder umstrittene Äußerungen des Autors zurückzuführen?

An diesem Punkt werden Bewertungen bzw. Rankings paradoxer Ausdruck einer Kultur der Eindeutigkeit, die zugleich Uneindeutigkeiten hervorbringt. Ist ein "Like" immer auch ein "Dislike" seines Gegenteils?

Erst dort, wo sich diese Frage stellt, wird es spannend. Erst hier setzen Diskurse an, wird Kultur lebhaft. Doch die Paradoxie der Kultur der Eindeutigkeit lebt davon, dass diese Debatten – wenn sie denn überhaupt geführt werden – ausgelagert, d.h. unabhängig von der ursprünglichen Lebensäußerung, geführt werden. 

Über kurz oder lang steht zu befürchten, dass die Eindeutigkeit und Unmittelbarkeit der massenhaften Bewertung einer Lebensäußerung zu einem Verlust an Kreativität und Tiefe von Werken führt. Zugänglichkeit, d.h. Massentauglichkeit könnte einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Natürlich ist diese Sorge nicht neu. Sie stellt sich ob der immer weiter zunehmenden Bedeutung von Rangfolgen allerdings mit immer größerer Dringlichkeit. 

Kultur bedarf eines subtilen Elements. Vorhersehbarkeit lässt dem Betrachter eines Werkes, der Leserin eines Romans keinen Raum, sich eigene Gedanken zu machen. Dabei besteht die Absorptions-Kraft eines Textes oder eines filmischen Epos ja gerade darin, Leerstellen selbst füllen zu können. Eine raumgreifende Kultur der Eindeutigkeit bedroht diesen Zustand des Denkens.




17 April 2018

Essay: Schafft die Lehrpläne ab!

Digitalisierung - es ist das Schlagwort der Stunde. Auch und gerade, wenn es um unser Schulsystem geht. Aber wie genau sollten Schulen auf sie reagieren? Es wird jedenfalls kaum genügen mehr Whiteboards oder Computer anzuschaffen. Es braucht einen Wandel des Lernens. Der erste Schritt dahin wäre es, die starren Lehrpläne abzuschaffen. 

Als der Filmemacher Werner Herzog vor zwei Jahren auszog, um in der Dokumentation „Wovon träumt das Internet?“ aus einer neuen Welt zu berichten, traf er auf buddhistische Mönche, die nicht meditierten, sondern twitterten, Menschen, die vor Handystrahlen in die Wildnis flohen und Computerexperten, die an Fußball-Robotern arbeiteten, die dereinst Nationalmannschaften schlagen können sollten. All diese Beispiele waren Ausdruck einer Welt im Übergang vom Analogen ins Digitale. Diese Welt der zwei Geschwindigkeiten ist mittlerweile allerorten mit Händen zu greifen. Es gibt kaum noch einen Lebensbereich, der nicht von diesem Wandel betroffen ist. Das so allgegenwärtige Schlagwort „Digitalisierung“ ist aus keiner Debatte mehr wegzudenken. Auch und gerade dann nicht, wenn es um das zukünftige Rollenverständnis von Schulen oder das Schulsystem im Allgemeinen geht.

Klar ist, dass die derzeit föderal erstellten Lehrpläne nicht mehr zeitgemäß sind. Sie sind starr und gehören in ihrer jetzigen Form abgeschafft. Um den tiefgreifenden Veränderungen unserer Zeit Rechnung zu tragen, müssen Schulsysteme den Spagat zwischen alter und neuer Welt meistern. Allein mit mehr Whiteboards, Smartphones in Klassenzimmern oder digitalen Klassenbüchern wird dies nicht gelingen. Vielmehr braucht es eine grundlegend neue Herangehensweise an die Vermittlung von Wissen. Moderne Lehrpläne sollten auf zwei Säulen ruhen. Die erste trägt der analogen Welt Rechnung. Ziel hierbei sollte es sein den Unterricht auf einem Bildungskanon aufzubauen, der Schülern hilft eine Art Landkarte des Wissens in verschiedenen Gebieten zu erwerben. Neben den naturwissenschaftlichen Fächern, der jeweiligen Landessprache und Fremdsprachen, sollten auch Fächer wie Geschichte oder Philosophie darin aufgenommen werden. Im Idealfall ist dieser Bildungskanon der Ausgangspunkt dafür sich auf der Basis erworbenen Wissens eigene Gedanken zu machen und diese für eine Welt im Wandel fruchtbar einzusetzen. Der Bildungskanon sollte sich zuvorderst nicht darum kümmern Schülern bloß „skills“ für einen späteren Arbeitsplatz zu vermitteln, sondern unabhängig davon Freude am Lernen und am „gebildet sein“ wachrufen. Gerade in Anbetracht einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt erscheint dies weit wertvoller als Fähigkeiten zu erwerben, die nach einer Weile nicht mehr gefragt sind. 

Neben der analogen Säule entfernt sich die zweite, digitale Säule von den starren Lehrplänen der Gegenwart. Vorstellbar wäre eine regelmäßige Zusammenkunft von Lehrern, Schülern und Politikern auf Ebene der Bundesländer, um aktuelle Entwicklungen des Schulsystems zu diskutieren. Die Konferenzen, die in regelmäßigem, mehrjährigem Abstand stattfinden sollten, stellen hierbei folgende Frage in den Mittelpunkt: „Was und wie wollen wir lernen?“ – Auf dieser Basis diskutieren die beteiligten Akteure Bildungsfragen und beschließen am Ende in gemeinsamer Abstimmung Lehrpläne für die kommenden Jahre. Die Schwerpunkte des Plans könnten hierbei zum Beispiel aktuell debattierte technische Innovationen oder gesellschaftliche Entwicklungen reflektieren. 

Deutlich wird in diesem Vorschlag, dass es nicht nur darum geht Schüler mit besserem Internet in Schulen auszustatten oder sie im Programmieren zu unterrichten. Schüler sollten nicht nur Konsumenten digitaler Produkte sein, sondern mündige Staatsbürger, die schon früh die geistige Flexibilität erlernen, die eine Welt im Übergang verlangt.

17 Februar 2018

Beobachtungen: Zukunft ohne Menschen. – Digitale Visionen und ihr Einfluss auf Gesellschaften.

Der Begriff "Zukunft" klang lange verheißungsvoll. Er stand für gesellschaftliche Visionen, Aufstieg, Wandel; kurzum für bessere Zeiten. Zugleich hatte er auch immer schon ein bedrohliches Element. Wenn wir heute von Zukunft reden, ist dieser Begriff stark an die Digitalisierung und die Vorstellungen einiger weniger Technologie-Unternehmen geknüpft. Menschen kommen darin - so scheint es mir - nur noch als Platzhalter vor.

Roger Willemsens letztes Buch, das ein Fragment geblieben ist, stellt eine scheinbar einfache Frage: "Wer waren wir?". Er unternimmt darin das Gedankenexperiment aus der Zukunft auf unsere Gegenwart zurückzuschauen und stellt fest: "(...) da die großen Zukunftsträume ausgeträumt oder wahr geworden sind, stellen sich die Menschen die Zukunft oft nur noch unscharf vor. Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übriglassen, sind auch stark im Visionären." Wir stellten uns die Zukunft  "(...) als die Wiederkehr des Vergangenen oder schlicht als Erlösung" vor, schreibt er weiter.

"Erlösung" erscheint mir ein treffender Begriff für viele Ideen zu sein, die aus dem Herzen des 21. Jahrhunderts, dem Silicon Valley in Kalifornien, kommen. Dort arbeitet man an Künstlicher Intelligenz, die das Wissen und die Fähigkeiten der Menschen weit übersteigen soll, oder an Möglichkeiten den bis dato unvermeidlichen Tod zu überwinden. "Zukunft" geht hierbei immer einher mit Selbstoptimierung oder der Übersteigung des Menschlichen.

Die Technikgläubigkeit der Gegenwart und eine beinahe manische Fixiertheit auf die "Zukunft", die hierbei synonym gesetzt werden könnte mit dem so allgegenwärtigen wie undeutlichen Schlagwort "Digitalisierung", sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass keine dieser "Visionen" eine ernsthafte Programmatik entwickelt, die das Leben aller Mitglieder einer Gesellschaft verbessert.
Selbstverständlich lässt sich nicht von der Hand weisen, dass z.B. die Digitalisierung der Medizin das Leben vieler Patienten verlängern und ihre Lebensqualität verbessern kann oder dass die sich stetig erhöhenden Rechenkapazitäten von Computern Vorhersagen von Erdbeben, Orkanen o.ä. durch die Auswertung enormer Datenmengen präziser machen können. Dennoch scheint vielen Ideen ein Sinn für das Gemeinwohl zu fehlen. Elemente, die Gesellschaften einen können, entdeckt man nicht. Alle gehen konsequent vom Individuum und der Optimierung des jeweiligen Lebens aus. Materielle Unterschiede, verschiedene Ansichten, variierende intellektuelle Kapazitäten oder gesellschaftliche Gegebenheiten, werden dabei jedoch oftmals ausgeblendet.

Das Versprechen, dass die Zukunft für die eigenen Kinder dereinst (noch) besser würde, erfüllt sich für viele heute nicht mehr. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk sieht dadurch die Staatsform der liberale Demokratie bedroht.
Doch anstatt das öffentlich echte Ideen entworfen würden, die Gemeinwohl und Bürgersinn in den Mittelpunkt des (politischen) Denkens stellen und die Visionen vom Menschen aus denken, wird die Leerstelle "Zukunft" durch immer enger geschnittene Räume, in denen Freiheitsgewinne für einzelne Gruppen erlebbar sind bzw. sein sollen, besetzt. So lässt sich auf Dauer keine gesamtgesellschaftliche Vision entwickeln.

Die Zukunft, die sich das Silicon Valley  und viele Unternehmer aus der Technologie-Branche vorstellen, geht über den Menschen hinaus. Er ist - so meine ich - nicht der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Die Zukunft gilt somit nicht jedem unbedingt als ein Synonym für bessere Zeiten.
Begreifen wir die Zukunft als eine Denkfigur bzw. als Teil der "breiten Gegenwart", die Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt, und stellen uns immer wieder Roger Willemsens Frage "Wer waren wir?", oder besser: "Wer werden wir gewesen sein?", können wir möglicherweise grundsätzliche Thesen formulieren, die Gemeinwohl und Bürgersinn immer mitdenken.

Arno Schmidt schrieb schon 1955 in "Seelandschaft mit Pocahontas": "der Grundirrtum liegt immer darin, daß die Zeit nur als Zahlengerade gesehen wird, auf der nichts als ein Nacheinander statthaben kann. <In Wahrheit> wäre sie durch eine Fläche zu veranschaulichen, auf der Alles <gleichzeitig> vorhanden ist; denn auch die Zukunft ist längst <da> (die Vergangenheit <noch>) und in den erwähnten Ausnahmezuständen (die nichtsdestoweniger <natürlich> sind!) eben durchaus schon wahrnehmbar."



04 Januar 2018

Essay: Jenseits von Tempo und Flexibilität. – Digitales Denken und Bildung.

Deutschland braucht ein neues Bildungssystem; besser heute als morgen! - So fordern es Journalisten, Politiker und Unternehmer gleichermaßen. Getrieben wird diese Forderung nach einer umfassenden Reform von zwei entgegengesetzten Polen. Einer erstaunlichen Digitalisierungseuphorie einerseits und der Angst vor Robotern, die unterschiedlichen Schätzungen nach zufolge zu mehr oder minder massiven Arbeitsplatzeinbußen führen könnten, andererseits. Erstaunlich dabei: Ein Großteil der Forderungen verlangt nach Flexibilität und Tempo. Kaum einmal steht Bildung an sich im Mittelpunkt. 

Erst kürzlich kommentierte Alexander Hagelüken in der SZ: "Arbeitnehmer (...) müssen Fähigkeiten erwerben, die sie ganz allgemein beruflich mobiler werden lassen, für den Wechsel in eine andere Stelle oder Firma. (...) Die Digitalisierung verlangt nach Tempo." 
Selbst wenn Hagelükens Kommentar viele kluge Gedanken enthielt - die Warnung beispielsweise, dass ob des Hypes um die so genannte "Industrie 4.0" viele wichtige Fragen, die Arbeitnehmer betreffen, ausgeblendet würden - stimmt er doch ein in den vielstimmigen Chor derer, die den  mannigfaltigen Veränderungen unserer Lebenswelt durch die Digitalisierung mit Tempo und Flexibilität begegnen wollen. Stichworte hierbei sind oftmals "Weiterbildung", "lebenslanges Lernen" oder der Erwerb von bestimmten Fähigkeiten, die Schülern oder Studenten auf dem Arbeitsmarkt weiterhelfen sollen.
Selten steht Bildung selbst im Mittelpunkt des Interesses der Reformvorschläge. Welch ein Fehler! - Es bedarf - bevor Politiker, Journalisten oder Unternehmer mit unausgegorenen Ideen vorpreschen - neben einer Annäherung an den Begriff der Bildung, einer Charakterisierung des Einflusses der Digitalisierung auf unser Denken. Daraus lassen sich für eine Bildungssystem-Reform einige grundlegende Einsichten ableiten.

Andreas Rödder schreibt in seinem Buch "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart": "(...) wer einen Text im Internet liest, neigt dazu, über die Hyperlinks den Querverweisen zu folgen - zu "surfen" -, statt ihn linear von vorn nach hinten zu erfassen". - Prägten "(...) Hierarchisierung und Priorisierung, Ursache und Folge, Kausalität und Genealogie" unser Denken in der Moderne seit der Aufklärung, könnte die Digitalisierung dazu führen, dass sich unsere Art zu denken grundlegend wandelt. 

Nehmen wir Rödders These ernst, so muss unser Bildungssystem uns dazu befähigen beide Arten des Denkens nachzuvollziehen und sich in ihnen zu bewegen. Nur weil Online-Lexika wie Wikipedia oder Suchmaschinen immer in greifbarer Nähe sind, verlieren Fakten- sowie Allgemeinwissen nicht zwangsläufig an Bedeutung. Ohne diese Arten von Wissen herrschten Orientierungs- und Rastlosigkeit vor. Beständig würden wir die einfachsten Kausalzusammenhänge nachprüfen, kurz registrieren und in der nächsten Sekunde wieder vergessen.
Gleichzeitig sollten wir schon in der Schule durch den Ausbau von Fächern oder Übungen wie Kreatives Schreiben lernen unseren Gedanken freien Lauf zu lassen und sie schriftlich niederzulegen. Diese Übungen würden dazu beitragen der Linearität des Denkens der Moderne eine neue Art des Denkens hinzuzufügen.

Neben der Befähigung zum Denken, sollten Bildungssysteme dazu beitragen, dass Schüler und Studenten in der Lage sind einen Wahrheitsbegriff zu bilden. Sie müssen in Zeiten ständig expandierender, immer griffbereiter Informationen in der Lage sein Fakten zu prüfen und Falschmeldungen erkennen zu können. Quellen einordnen und bewerten zu können, erscheint heute besonders wichtig. 

Darüber hinaus erscheint es - auch wenn dies anachronistisch klingen mag - wichtig, Schülern und Studenten Freude an Bildung und am gebildet sein mitzugeben. Ganz ohne Hintergedanken an den Arbeitsmarkt oder zukünftige Jobaussichten.
Bloß Fähigkeiten ("skills") zu vermitteln, erscheint angesichts der Digitalisierung, die viele als eine grundlegende Umwälzung begreifen, allzu kurz gegriffen.